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Ich zog wegen Corona zurück zu meinen Eltern & hinterfrage jetzt mein ganzes Leben

Ich zog mit 19 von zu Hause aus. 2020 – mit 29 Jahren und ein ganzes Jahrzehnt später – fühlte ich mich demnach komplett unabhängig. Ich war die Erste in meiner Familie, die studierte, und ich war stolz darauf, mir meinen eigenen Weg gebahnt zu haben. Seit ich 12 war, hatte ich dafür gearbeitet, irgendwann mal in die Stadt meiner Träume ziehen zu können: London. 
Dieser Traum war Realität geworden. Klar, ich war immer noch nicht ganz da gelandet, wo ich auf der Karriereleiter hinwollte; ich würde mir vermutlich nie ein Haus in der Stadt leisten können, und ich musste jeden Tag mit drei verschiedenen Transportmitteln zu einem Job fahren, der mich unglücklich machte. Aber wenigstens hatte ich meine Unabhängigkeit. 
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Und dann kam Corona.
Ganz zu Beginn der Pandemie war ich für zwei Wochen freigestellt worden, und allein die Vorstellung, nochmal einen halben Monat in meiner zu kleinen Bude im Südosten Londons verbringen zu müssen, machte mich nervös. (Das waren noch naive Tage, an denen wir alle glaubten, eine globale Pandemie sei bestimmt nach ein paar Wochen wieder vorbei.) Ich fragte also auf der Arbeit nach, ob es okay sei, wenn ich für ein paar Wochen abhaute – ich war ja ohnehin freigestellt –, und nach dem Okay überzeugte ich meinen Freund, mit mir ein paar Wochen bei meiner Mum im ländlichen England zu verbringen, in meiner Heimatstadt. 
Damit war ich nicht allein. Die sogenannte „Stadtflucht“ ist seit Corona beliebter denn je, und das überall auf der Welt; viele Stadtmenschen ziehen dabei nicht nur temporär zu Verwandten oder Bekannten aufs Land, sondern suchen sich dort eine feste Bleibe. Dafür spricht nicht nur die „Landliebe“, sondern natürlich auch die hohen Mietpreise in Großstädten. Da ist es auch kein Wunder, dass die Zahlen der noch bei den Eltern wohnenden Erwachsenen schon seit Jahren immer weiter steigen: Mehr als jede:r vierte junge Erwachsene wohnt in Deutschland mit 25 Jahren noch zu Hause; bei den Männern sind es sogar 34 Prozent
Angesichts dieser Realität war ich für meine eigene Situation echt dankbar: Ich wohnte in einer Wohnung mit Mietpreisbremse in einem beliebten Londoner Stadtteil. Es sagt einiges über den Mangel an erschwinglichen Mietwohnungen in Städten wie London, Berlin und Co. aus, dass ich diese Wohnung auch weiterhin bezahlte, obwohl ich dort seit Corona gar nicht mehr wohnte. Und ich war nicht die Einzige: Insgesamt zahlten die Brit:innen in den ersten drei Monaten des Lockdowns geschätzte 2,9 Milliarden Pfund an Miete für leere Wohnungen. Warum behielt ich die Wohnung trotzdem? Weil mir diese Großstadt-Unterkunft – obwohl ich nicht darin wohnte – das Gefühl gab, dem Karriere-Erfolg immer noch zum Greifen nah zu sein, obwohl ich diesen Ehrgeiz eigentlich längst aufgegeben hatte.
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Gefangen im Zimmer meiner Jugend, umgeben von dem Krimskrams, an dem sich der erste aufkeimende Ehrgeiz erkennen ließ, wurde mir bewusst, wie weit ich von meinen damaligen Zielen entfernt war.

Wann immer ich daraufhin in meiner Heimatstadt zufällig alten Schulfreund:innen begegnete, baute ich deswegen in jedes Gespräch ein, dass ich ja nur vorübergehend hier sei. Ich hatte noch nicht „aufgegeben“; ich war ja noch nicht für immer zurückgezogen. Dabei war es gar nicht so, als würde ich die Leben dieser Bekannten so sehen. Ich hatte eigentlich keine Ahnung, wieso ich das Stadtleben mit Unabhängigkeit gleichsetzte – und irgendwann während meiner Freistellung gab ich auch diese Einstellung auf. Gefangen im Zimmer meiner Jugend, umgeben von dem Krimskrams, an dem sich der erste aufkeimende Ehrgeiz erkennen ließ – wie zum Beispiel die Stapel voller Zeitschriften, von denen ich mir damals sicher war, dass ich in meinem jetzigen Alter auf jeden Fall dort als Redakteurin arbeiten würde –, wurde mir bewusst, wie weit ich von meinen damaligen Zielen entfernt war. Ohne das hektische Tempo des Londoner Alltags mit seinen ewig langen Fahrtwegen und unzähligen Ablenkungen wurde mir klar: Der Lifestyle, dem ich da gerade hinterhertrauerte, war gar nicht der, den ich mir mal erträumt hatte.
Als ich im Juli mit meinem Freund nach London zurückkehrte, nachdem wir schon knapp 5.000 Pfund Miete für eine Wohnung hingeblättert hatten, in der wir nicht mal gewohnt hatten, feierte ich meine Rückkehr mit angeberischen Posts, unter die ich schrieb: „Ich bin wieder da.“ Aber irgendwie konnte ich die Distanz zwischen dem Leben, das ich mir früher gewünscht hatte, und der Realität nicht überbrücken. 
London hing, wie so viele Großstädte rund um den Globus, wie in der Schwebe. Feierabend-Drinks, Galeriebesuche? Fehlanzeige. Stattdessen hatte ich jede Menge Zeit für Selbstreflexion. Weil mich niemand besuchen durfte, war das hässliche rote Linoleum in meiner Küche nicht mehr eine Oberfläche, auf der meine Freund:innen getrost ihre Drinks verschütten durften, weil sie eh im Arsch war; stattdessen war der Boden jetzt eine hässliche Erinnerung daran, dass ich in einer Wohnung wie Tausende andere wohnte, in einem Block, dessen Verwaltung keinen Bock hatte, das zerstörte Linoleum dieser alten Buden auszutauschen.
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Die verschwendete Miete regte mich und meinen Freund auf, und unser Zuhause fühlte sich immer mehr wie eine Abzocke an. Die zersprungene Herdplatte, die schäbige Beleuchtung: Wieso zahlten wir ein Vermögen für eine heruntergekommene Wohnung in einer Stadt, die uns gerade nichts bieten konnte? Als die philippinische Familie von nebenan, die 14 Jahre in diesem Haus gewohnt hatte, ihr Leben in einen Laster lud – auf dem Parkplatz, für den ich fünf Jahre lang keine Parkplakette bekommen hatte –, war das der letzte Tropfen für unser volles Fass: Wir beschlossen, auf unbestimmte Zeit in die Kleinstadt meiner Mutter zu ziehen.
Zwölf Tage, nachdem wir dort angekommen waren, wurde ich 30 – in dem Haus, wo ich schon meinen 13. Geburtstag mit einer Pyjamaparty gefeiert hatte. Es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass ich mich wie der Geist meiner Teenagerzeit fühlte. Nach einem Jahrzehnt der vermeintlichen Unabhängigkeit lebte ich wieder wie eine Jugendliche und wechselte zwischen dem Verhalten eines Kindes und dem einer Erwachsenen: Zwar schimpfte ich meine Mutter dafür aus, sich nicht direkt beim Reinkommen die Hände gewaschen zu haben – hallo, Pandemie?! –, prokrastinierte aber wieder genauso wie als Teenagerin. In London hätte ich das Schreiben dieses oder jenes Artikels noch mit der Ausrede rausgezögert, ich sei einfach noch nicht „bereit“ dafür; hier, zu Hause, hatte ich dabei das Gefühl, mich vorm Lernen fürs Abi zu drücken, wenn ich meinen Bildschirm gekonnt von allen wegdrehte. Sollte ja niemand wissen, dass ich mich mal wieder durch Instagram oder ASOS scrollte.
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Weil mein Leben im letzten Jahr keinen fixen Dreh- und Angelpunkt hatte, hat sich mein Fokus verlagert. Ich definiere mich jetzt weniger durch meinen Job oder meinen Wohnort.

Unter dem Dach meines Elternhauses ist das Gefühl der selbstsicheren Unabhängigkeit langsam wieder einer Elternteil/Kind-Dynamik gewichen, in der ich mich für alles rechtfertigen muss. Die zieht sich von alltäglichen Streits bis hin zu lebensverändernden Entscheidungen: Wie früher auf dem Schulweg hake ich mich bei meiner Mum unter und zerre sie von einer Hausbesichtigung zur nächsten, frage sie ununterbrochen nach ihrer Meinung und halte ihr Immobilienbroschüren unter die Nase, als wären es Zeugnisse. 
Weil mein Leben im letzten Jahr keinen fixen Dreh- und Angelpunkt hatte, hat sich mein Fokus verlagert. Ich definiere mich jetzt weniger durch meinen Job oder meinen Wohnort. Mein Leben lässt mir jetzt den nötigen Freiraum, um meine Pläne und Prioritäten neu zu sortieren, anstatt ehrgeizig irgendwelche Teenager- oder Mittzwanziger-Ziele zu verfolgen. Da mein gesamtes Hab und Gut aktuell in einem Lagerraum liegt, bin ich frei von all dem Kram, der uns als Person zu oft bestimmt – und ich kann mein Leben selbst in die Bahnen lenken, auf die ich eben gerade Lust habe. Ich will nicht, dass sich meine Identität auf meinen Arbeitsplatz oder meine Adresse beschränkt, sondern konzentriere mich auf die Vorstellung, dass ein „Zuhause“ nicht nur ein konkreter Ort sein kann, sondern auch ein abstraktes Konzept – und dieser Glaube tröstet mich gleichzeitig darüber hinweg, dass ich mir vermutlich gar kein eigenes Haus leisten könnte. Fernab von der Konkurrenz- und Karrieregeilheit der Stadt bin ich frei, andere Interessen zu verfolgen.
Ein kurzweiliges Malerei-Hobby hat mir gezeigt, dass diese Interessen vielleicht nicht immer ewig halten – aber ein Jahr der On-Off-Freistellung hat mich zur Experimentierfreudigkeit gezwungen, die mich an meine Teenagerzeit erinnert. Ich probiere aus, worauf auch immer ich Lust habe, ohne mir einzureden, jedes Hobby müsste mir ein bisschen Geld bringen. Endlich keine Londoner Miete mehr bezahlen zu müssen, hat mir viel Freiheit geschenkt – und ich weiß, dass das ein enormes Privileg ist. Schade, dass es erst ein Desaster wie Corona brauchte, um mir zu zeigen, dass mir das Leben gar nicht mehr gefiel, das ich so angestrengt verfolgt hatte. 

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