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„Mama ist Alkoholikerin“: Wie ich meine Kindheit in Co-Abhängigkeit verbrachte

Foto: Alexandra Gavillet
Seit ich denken kann, habe ich mich grundlegend für meine Mutter geschämt. Ich habe die nachlässige Art gehasst, mit der sie sich gehen ließ. Ich habe es gehasst, wenn sie stammelte, bedrohlich wankte oder so tat, als wäre alles gut, aber aus dem Mund nach säuerlichem Wein und Kippen roch, und dann mit glasigen Augen die Wohnung aufräumte, dabei Geschirr fallen ließ oder vergaß den Staubsauger einzustecken, bevor sie zehn Minuten vor unseren Augen geräuschlos saugte, ohne es zu bemerken. Ich habe es verabscheut, wenn sie Telefonate für mich annahm und dann vergaß, dass jemand am anderen Ende der Leitung auf eine Antwort wartete, und anstatt mich zu rufen, lieber in den Keller ging um noch ein Glas Wein zu trinken. Und dann noch eins. Noch eins. Immer weiter, nur um dann um neun Uhr Abends schon vollkommen zerwühlt und müde ins Bett zu gehen, oder noch schlimmer: Auf dem Klo einzuschlafen. Ihr Gesicht eingefettet mit etlichen Lagen Anti-Aging Creme, die ihr nicht mehr helfen würden. Lachshafter Glanz. Sie sah mit Vierzig schon aus wie Sechzig. Ich musste meine Zähne an diesen Abenden in der Küche putzen. So blieb sie oft einfach dort liegen.
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Ich habe ihr Elternabende bewusst verschwiegen, damit die Eltern und Lehrer sich wegen ihr nicht schämen mussten.

Ich habe damals akribisch versucht, sie vor meinen Freunden zu verstecken. Ich habe sie so gesehen regelrecht geghostet, aus meinem Leben entfernt und versucht die Verantwortung für unser Leben alleine zu tragen. Je unsichtbarer sie war, desto besser ging es mir. Ich war ihr Vormund. Der Vormund für jemanden, den ich hasste, aber per Definition lieben musste, um mich moralisch nicht als kompletter Unmensch zu degradieren. Ich habe sie wahlweise für dumm, undiszipliniert oder egoistisch gehalten. Mal aber auch nur für tragisch, gescheitert oder sogar zerstörerisch. Ich habe ihr Elternabende bewusst verschwiegen, damit die Eltern und Lehrer sich wegen ihr nicht schämen mussten. Ich hatte Angst, dass jemand Mitleid mit mir haben würde. Ich wollte nicht durch eine Lebensentscheidung stigmatisiert werden, die jemand anderes getroffen hatte. Ich habe also aus Scham Schamprophylaxe betrieben und dabei das Gefühl davor verloren, welche Person meine Mutter überhaupt war. Ich weiß bis heute nichts von ihr, außer dass sie arbeiten geht, aufräumt und trinkt.
Gefragt, wie es meiner Mutter dabei ging, habe ich niemals. Wir hatten einfach nicht diese Art von Beziehung, in der man miteinander sprechen konnte und als Jugendliche kämpft man eher um das eigene Überleben, so grotesk das für Außenstehende und Nichtbetroffene auch klingen mag. Meine Freunde waren in dieser Zeit wie eine Familie für mich, wofür ich bis heute sehr dankbar bin. Später bin ich ihnen gegenüber dann in die Offensive gegangen, weil es ohnehin keinen Sinn mehr machte, das Offensichtliche zu vertuschen. Ich habe mich dann über meine Mama und den Alkohol lustig gemacht. Ich habe schlecht über sie geredet, mich ironisch distanziert oder sogar versucht, sie in einem unbeobachteten Moment die Treppe runterzustoßen. Gott sei Dank konnte sie sich gerade noch so halten! Es war ein halbherziger, unüberlegter Versuch und sie erinnert sich heute nicht einmal mehr daran. Nichts hat geholfen. Wir hatten eine große Distanz, aber trotzdem war ich mit ihrem Schicksal unauflösbar verbunden. Das tat weh.
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Zunächst versucht man zu helfen. Man versucht die Defizite auszugleichen und schweigt sich bald dabei tot.

Ich war enorm wütend und heute schäme ich mich nicht nur für ihre Sucht sondern auch für mich. Inzwischen weiß ich, es war Co-Abhängigkeit, doch die Schuldgefühle halten an. Aber was will man tun? Zunächst versucht man zu helfen. Man übernimmt Haushaltsaufgaben. Man ergänzt Sätze, die nicht mehr so recht zu Ende geführt werden können, man erfindet Ausreden, warum man zur Party fünf Kilometer durch den Wald laufen musste, anstatt wie alle anderen von den Eltern gefahren zu werden, denn das konnte Mama ab nachmittags aufgrund ihres Alkoholpegels nicht mehr. Man versucht die Defizite auszugleichen und schweigt sich bald dabei tot. Eine Art stille Fürsorge.
Foto: Alexandra Gavillet
Psychologen glauben, dass Co-Abhängigkeit in drei Phasen abläuft: Zuerst setzt die Beschützerphase ein, in der der Alkoholkranke besondere Zuwendung erfährt, weil man Hoffnung hat, dass er sich selber heilen kann und dann alles besser wird. Danach folgt die Kontrollphase. Hier übernehmen Familienmitglieder, Partner und Freunde Aufgaben und Probleme des Süchtigen, um das Suchtproblem nach Außen hin zu verstecken und die vermeintliche Funktionalität aufrecht zu erhalten. Am Ende steht noch die Anklagephase, in der Aggressionen und Verachtung gegen den Suchtkranken vorherrschen. Ich konnte ihre Gegenwart schlichtweg nicht mehr ertragen. Ich habe alle drei Phasen erlebt und kann berichten, dass daraus ein Riesenhaufen Scheiße für Angehörige resultiert, die am Ende ebenfalls total hilflos sind. Ich bekam Depressionen. Ich war jemand, der in einem unbedarften Moment versucht hatte, seine Mutter auszulöschen. Meine Familie war dysfunktional.
Heute kann ich etwas besser mit meiner Mutter umgehen und zeige mich ihr gegenüber verständnisvoll, aber distanziert. Natürlich kostet das sehr viel Kraft, funktioniert in der Regel aber ganz gut, wenn man räumlichen Abstand zum Suchtkranken hat, und Mama es schafft sich an eine kleine Auflage meinerseits zu halten: Mich nicht alkoholisiert zu kontaktieren! Ausnahmen gibt es dabei immer wieder. Vorallem wenn sie selber nach zwei Gläsern Wein nicht abschätzen kann, dass andere es ihr sehr wohl anmerken. Dann rutsche ich wieder in die Co-Abhängigkeit zurück und reagiere mit Aggressionen, die nicht nur ihr weh tun, sondern auch mir. Meine Mutter ist Alkoholikerin, aber das musste ich erst erkennen lernen. Da finden viele Verletzungen statt.
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Ich würde zum Schluss gerne noch erzählen, was für ein Mensch meine Mutter eigentlich ist, aber ich kann nur mutmaßen, denn ich kann mich nicht erinnern, sie trank schon immer. Ich denke, im Grunde ist sie ein guter Mensch und äußerst rechtschaffen. Sie geht jeden Tag hart arbeiten, ob mit Kater oder ohne. Jeden Tag schleppt sie sich dahin. Sie steht um Sechs in der Frühe auf, bereitet Vater Frühstück zu, bringt den Hund raus. Trinkt kurz einen Kaffee, wie sie selber sagt, der einzige Moment des Tages, an dem sie Ruhe hat und sich wohlfühlt. Das Wort „Glück“ nimmt sie selber nicht in den Mund, denn dann würde sie sich etwas anmaßen, das ihrer allgemeinen Demut zutiefst widerspricht. Ihre Person existiert nur, um aufzuräumen, zu kochen, arbeiten zu gehen und dann zu trinken. Sie weiß selbst nicht, wie sie sich fühlt. So gingen dann die Jahre vorbei.

Mutter liebte den Wein. Das erste Glas stimmte sie milde, ließ ihren Körper erweichen und lockerte ihre Härte und ihren Hang zur Kontrolle.

Alkohol stellt mit dem Gehirn die unmöglichsten Sachen an. Bei meiner Mutter konnte man den Wecker stellen. Warum auch immer, sie hatte diese unausweichliche 17-Uhr-Grenze. Bis dahin stocknüchtern und alles im Griff. Jemand, der Einkaufszettel abheftet, mit Schulen telefoniert und weiß wo der Schlüsselbund liegt. Jemand mit einem sauberen Haus und drei Kindern auf dem Gymnasium. Ab 17 Uhr wurde es dann ambivalent. Endlich Nachmittag! Das erste Glas Wein trank sie zu Beginn noch offen. Jahre später dann, als sie begriff, dass wir begriffen hatten, wurde es nur noch verstohlen im Keller getrunken, wo ich die Flaschen hin und wieder versteckt hinter den Winterreifen oder im Farbeimer-Fach des Heimwerkerregals fand. Mutter liebte den Wein. Das erste Glas stimmte sie milde, ließ ihren Körper erweichen und lockerte ihre Härte und ihren Hang zur Kontrolle. Erst wurde sie freundlich und bekam beinahe menschliche Züge. Ich glaube, sie liebte diese Milde an sich auch sehr, die sie im Laufe des Tages nicht zeigen konnte. Hier arbeitete sie nur Ziele ab, um sich ein paar weiche Minuten am Abend zu gönnen. Dann kam das zweite Glas. Noch vor dem Abendessen auf nüchternen Magen. Ab jetzt konnte ich sie nicht mehr ertragen. Die weiche Person zerlief zusehends und wurde konturlos und plump. Man merkte förmlich wie ihr Kopf ausschaltete und sie nun auf Autopilot wie eine demente Person durch die Wohnung schwamm und fahrig so tat als hätte sie die Kontrolle behalten. Dieser Zustand wird mit den Jahren immer schlimmer.
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Ich zog so schnell ich konnte nach dem Abitur zuhause aus und beschränkte meine Besuche auf einzelne Gelegenheiten im Jahr. Das tat mir gut und ich begann Schuldgefühle nach und nach abzulegen. Hin und wieder packt mich heute dennoch die bittere Angst was passiert, wenn sie in fünf Jahren in Rente geht. Was, wenn nichts bleibt von ihr. Wenn dieser acht-Stunden-Puffer, in dem sie beschäftigt ist, auch noch wegfällt. Sie ist eine gesichtslose Frau. Eine Trinkerin. Wer soll die Verantwortung tragen? Ich schaffe es nicht mehr. Und ich möchte nicht mehr in Co-Abhängigkeit leben, und dafür schäme ich mich manchmal.
Wenn du oder jemand, der euch nahe steht, betroffen ist, kannst du dich bei der BZgA über Hilfsmaßnahmen informieren. Dort findest du auch Tipps und Beratung zum Thema Co-Abhängigkeit.
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