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Wenn du genug davon hast, der Fußabtreter deiner Clique zu sein

Foto: freundlicherweise zur Verfügung gestellt von by CBS Photo Archive/Getty Images
„In jeder Clique, von der ich je ein Teil war, bin ich immer die Zielscheibe aller Witze gewesen“, sagt Alice*, 28. „Seitdem ich denken kann, bin ich immer der Fußabtreter für die Leute um mich herum gewesen – in der Grundschule, der Oberschule, an der Uni, bei der Arbeit, innerhalb meiner Familie. Die einzige Person, die mir nahesteht und mich nicht in diese Rolle steckt, ist mein Mann – und daran habe ich mich immer noch nicht gewöhnt.“
Von den Stereotypen, die es innerhalb einer Gruppe von Freund:innen so gibt – von dem übereifrigen Organisator bzw. der übereifrigen Organisatorin über den zurückhaltenden Therapeuten bzw. die zurückhaltende Therapeutin bis hin zum festgelegten Fahrer bzw. die festgelegte Fahrerin –, ist der des Fußabtreters wohl der unbeliebteste und kränkendste. Wie der Name schon verrät, müssen Leute, die als Fußabtreter innerhalb einer Clique gelten, ganz schön viel wegstecken, da Scherze immer auf ihre Kosten gehen und sie nicht ausreichend respektiert werden.
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Aber nicht jeder Fußabtreter fühlt sich durch diese Rollenverteilung auf den Schlips getreten. Manche nehmen das Ganze auf die leichte Schulter und in keiner Weise persönlich. Andere sind sich dessen gar nicht bewusst, dass sich alle Witze um sie drehen. Andere wissen genau Bescheid und es macht sie insgeheim fertig. Anderen wiederum verleiht es Energie, weil sie so viel Aufmerksamkeit bekommen.

„In der Rolle eines Fußabtreters zu sein, bedeutet, dass dich die anderen am meisten mögen“, so ein TikTok-Kommentar. Alice stimmt dem zu. Sie stört sich nicht an der einen oder anderen Stichelei, weil sie weiß, dass sie nicht böse gemeint sind – so, wie RuPaul den Kanditat:innen vor jeder „Drag Race“-Challenge erklärt und rät: „Es ist in Ordnung, wenn das Ganze liebevoll gemeint ist – und du dann daraus etwas Lustiges machst.“

„Es ist schon seltsam“, überlegt Alice laut. „Es ist nicht unbedingt so, dass ich diese Rolle mag, aber es macht mir nichts aus, dass die meisten Witze auf meine Kosten sind. Mir ist es lieber, die Zielscheibe aller Scherze zu sein, als diese Rolle einer anderen Person überlassen zu müssen. Es stört mich nicht, wenn mich die anderen auf die Schippe nehmen“, erklärt sie. „Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich ziemlich leicht zu veräppeln bin, weil ich so offen bin.“
Aber in manchen Situationen können solche scherzhaften Sticheleien zu weit gehen und an Mobbing grenzen. Der Fußabtreter einer Clique zu sein, kann anstrengend, traumatisch und lebensverändernd sein. In einer ehemaligen Freund:innengruppe wurde es mir irgendwann zu viel. Unaufhörlich musste ich mir respektlose Slutshaming-Bemerkungen anhören und allgemeine, unwitzige Erniedrigungsversuche über mich ergehen lassen. Diese paar Jahre mit diesen Freund:innen belasteten mich emotional so sehr, dass es fast ein Jahrzehnt dauerte, bis ich darüber hinwegkommen konnte. Mit Anfang 20 distanzierte ich mich nicht nur von dieser Clique, sondern von all meinen Freund:innen. Ich hatte es satt, so schlecht behandelt zu werden und wollte ein neues Kapitel beginnen.
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Wo ist also die Grenze? Und ist es der gesündeste Ausweg, Freund:innen die Freundschaft für immer abzuschwören? „Was in einer Gruppe als ‚normal‘ gilt, unterscheidet sich von Clique zu Clique. Du weißt am besten, was als ‚okay‘ zählt und was nicht“, sagt die in London ansässige Psychotherapeutin und Beziehungsberaterin Beverley Blackman. „Du darfst auch nicht vergessen, dass Menschen Dinge sagen können, die sie nicht so meinen, wenn sie sich in einem bestimmten Zustand befinden, z. B., wenn sie gestresst sind, sich unwohl fühlen, zu viel getrunken haben, und so weiter.“
„Sorgen solltest du dir erst dann machen, wenn du nicht mehr mit Sicherheit behaupten kannst, dass die Sticheleien gegen dich nicht böse gemeint sind und diese nicht dem ‚normalen‘ Verhalten innerhalb dieser Gruppe entsprechen“, so Blackman weiter. „Dann solltest du das Thema auf jeden Fall ansprechen. Das kannst du auf dezente Weise tun oder die Person auf der Stelle zur Rede stellen – es hängt von der jeweiligen Gruppendynamik ab, zu entscheiden, welche Option sich am besten eignet.“
Natürlich hat es Folgen, wenn nicht nur ab und zu Witze auf deine Kosten gemacht werden, sondern du ständig die Zielscheibe aller Witzeleien bist und ständig höhnische Kommentare über dich ergehen lassen musst. „Wenn jemand unaufhörlich schlechtgemacht wird, beeinträchtigt das irgendwann das Selbstempfinden und das Selbstwertgefühl der Person in Frage“, sagt Blackman. „Es kann sein, dass Betroffene dann beginnen, sich abzukapseln und sich zu verkriechen, aufhören, zu kommunizieren, nicht mehr zur Gruppe gehören wollen und depressiv oder ängstlich werden.“

Es gibt Möglichkeiten, diesen Kreislauf zu durchbrechen. „Zuerst solltest du dir etwas Selbstachtung verschaffen. Frag dich, was es anderen Menschen ermöglicht, dich wie einen Fußabtreter zu behandeln, welche Rolle du in diesem Zusammenhang spielst und welche Verhaltensmuster du aufweist, die es anderen erlauben, so mit dir umzugehen“, rät Blackman.
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Selten wird darüber gesprochen, wie nuancenreich die Rolle des Fußabtreters eigetlich ist: Solche Personen sind scheinbar unverwüstlich und haben die bemerkenswerte Fähigkeit, sich wieder aufzurappeln – und zwar immer wieder. Aber stärkt das wirklich den Charakter und – was entscheidend ist – lohnt es sich, in dieser Rolle zu bleiben? Alice glaubt, dass der Grund dafür, dass sie immer wieder in diese Rolle gesteckt wird, darin liegt, dass ihre Freund:innen wissen, dass sie nichts so schnell umwirft. „Ich glaube, dass andere denken, ich sei diese entspannte, coole Person, die herumläuft und sich selbst auf die Schippe nimmt. Ich bin ja auch tatsächlich die meiste Zeit so, aber eben nicht immer“, erklärt Alice. „Leute glauben, dass mir Scherze auf meine Kosten nichts anhaben können. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, wie ich rüberkomme und dass ich wirklich damit umgehen kann. Die meiste Zeit lache ich ja tatsächlich über die Witze, die andere über mich reißen!“

Was ist aber, wenn du das Ganze gar nicht lustig findest und es dich wirklich verletzt? Wie so oft führen auch hier alle Wege zur Therapie. Blackman rät, mit einer außenstehenden Person zu sprechen, da sie die Situation unparteiisch beurteilen kann. „Es lohnt sich immer, für eine Weile in Therapie zu gehen, um mehr über dich selbst und deine Identität zu erfahren.“ Du brauchst nicht psychisch krank zu sein, um dir professionelle Hilfe zu holen, erinnert sie uns. „Viele Menschen nutzen sie als eine Form von Selbstfindungsreise und um positive Veränderungen in ihrem Leben herbeizuführen. Beziehungen und die Dynamik innerhalb von Freund:innenkreisen sind immer ein Ort, an dem die manchmal dysfunktionalen Lebensmuster einer Person zum Vorschein kommen können. Wenn du dir ihrer bewusst bist, ist es viel einfacher, Änderungen vorzunehmen. So kannst du deine Rolle als Fußabtreter an den Nagel hängen und wirst wieder mit Respekt in den Spiegel schauen können.“
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Wenn eine Freundschaft toxisch ist, solltest du deiner Selbstachtung Priorität einräumen. Das ist so schwierig, wie es klingt – vor allem heutzutage, im Zeitalter der sozialen Medien. In der Ex-Clique, die ich bereits erwähnte, wurde ich veräppelt, ohne dass außenstehende Leute Wind davon bekamen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie viel schlimmer es sein muss, z.B. auf Instagram von den eigenen Freund:innen verspottet zu werden.
„Instagram und Facebook sorgen für Reibereien zwischen Freund:innen oder innerhalb von Freund:innenkreisen“, sagt Blackman. „Viele Menschen äußern sich besorgt darüber, wie sehr sich ihre Freundschaften [während der Pandemie] verändert haben. Es ist viel einfacher, das, was ein:e Freund:in sagen will, falsch zu interpretieren, wenn die Kommunikation per Nachricht oder E-Mail stattfindet, als sich am Tonfall bei einem Telefongespräch zu orientieren.“
Für Alice hat sich die Pandemie in Hinblick auf ihre Rolle als Fußabtreter sogar als positiv erwiesen. „Ich bin jetzt nicht mehr so oft die Zielscheibe aller Scherze, weil ich meine Freund:innen nicht mehr so oft sehe“, sagt sie. „Außerdem kommen mir die Menschen, die mir am Herzen liegen, seit der Pandemie fürsorglicher und einfühlsamer vor.“
Ich denke, dass es nicht schaden kann, Ratschläge von mir zu beherzigen, einer Person, die für gewöhnlich der Fußabtreter der Gruppe ist und es dennoch schafft, liebevolle Beziehungen zu ihren Freund:innen aufrechtzuerhalten. „Sag etwas, wenn du dich unwohl fühlst“, sagt Alice. „Tu es vielleicht nicht unbedingt in der Hitze des Gefechts, damit du nicht zu emotional reagierst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zum Problem wird, deine Gefühle in einem Gespräch mit deinen Freund:innen anzusprechen. Und wenn doch, dann sind deine Freund:innen nicht die richtigen für dich. Das ist zwar sicherlich eine bittere Pille für dich, aber du solltest dir ganz einfach nichts gefallen lassen müssen, womit du dich nicht wohl fühlst. Mach deine Grenzen klar – und zwar laut und deutlich.“

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