Es ist 20 Uhr an einem Samstag im Jahr 2023. Es ist mein 30. Geburtstag, und ich stehe allein in einem vollen italienischen Restaurant auf der Karaoke-Bühne, stocknüchtern, und jaule mich durch Robbie Williams’ „Angels“. Bis zu diesem Moment war Karaoke immer etwas gewesen, wozu ich mich niemals ohne den Einfluss von Alkohol getraut hätte – mitunter wegen meiner Angst davor, von anderen verurteilt oder ausgelacht zu werden. Aber da war ich nun, seit einem Jahr nüchtern, und genoss das wahnsinnige, euphorische Gefühl, mir meiner Handlungen komplett bewusst zu sein, umgeben von geliebten Leuten und Fremden zugleich, und das ohne auch nur den Hauch von sozialer Angst.
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Die größte und wohl peinlichste Überraschung meines Lebens war nämlich die Erkenntnis, wie viel Spaß ich eigentlich ohne Alkohol haben konnte. Obwohl ich zwar nicht behaupten würde, dass ich vorher alkoholsüchtig war, brauchte ich ihn während meiner Zwanziger doch gelegentlich. Er lockerte soziale Situationen für mich auf und half mir dabei, meine Gefühle in einer unbekannten Umgebung unter Kontrolle zu bringen. Ich feierte mit Alkohol. Ich trauerte mit Alkohol. Ich beendete mit Alkohol einen ansonsten ziemlich banalen Arbeitstag. Irgendwann verband ich Trinken mit Spaß – und dann den Spaß auch leider mit dem Trinken.
Natürlich traf das aber nicht auf jeden feucht-fröhlichen Abend zu. Manchmal versauten mir der Kater und die Konsequenzen für mein Bankkonto dann doch ordentlich die Stimmung. Aber doch blieb da immer ein Funken Hoffnung in mir – darauf, dass das nächste Dinner, der nächste Afterwork-Drink oder die nächste Partynacht genauso wundervoll werden würde, wie ich es erwartete. Und selbst dann, wenn ich versuchte, mein Trinken einzuschränken oder ganz damit aufzuhören – vor allem, als ich herausfand, dass es meine furchtbare Zwangsstörung verstärkte –, war ich weiterhin unterbewusst davon überzeugt, jeder nüchterne Spaß wäre mit Alkohol noch so viel spaßiger.
Erst, als ich Anfang 2022 ein neues Medikament gegen meine Zwangsstörung bekam, begann ich, diese Vorstellung mal zu hinterfragen. Ich hörte mit dem Trinken auf – und das Leben ging einfach weiter. Nach ein paar Barbesuchen und Geburtstagspartys, während der ich mich ein bisschen unwohl und verschlossen fühlte, fing ich an, einfach mal locker zu lassen.
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Feiern und Partys waren plötzlich ein riesiger Spaß. Ich amüsierte mich genauso – wenn nicht sogar mehr – wie früher unter Alkoholeinfluss. Ich bin heute seit ganzen zwei Jahren nüchtern und immer noch der festen Überzeugung, dass es eine der besten Entscheidungen meines Erwachsenenlebens war, mit dem Trinken aufzuhören. Ich habe nüchtern denselben Spaß erlebt, den ich früher in einer Flasche suchte.
Genau deswegen bin ich der Meinung, dass jede:r, der oder die Alkohol trinkt, es auch mal in irgendeiner Form ohne versuchen sollte. Und wenn du darüber nachdenkst, ganz aufzuhören, ist dazu immer ein guter Zeitpunkt. Während uns jetzt aber ein weiterer grauer, düsterer Januar bevorsteht, glaube ich, dass der Dry January (bei dem du den ganzen Monat auf Alkohol verzichtest, um dich mental und körperlich zu „resetten“) nicht die beste Option ist, um ein alkoholreduziertes oder gar -freies Leben wirklich genießen zu können.
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Ein großes Geheimnis, das mir erst klar wurde, als ich nüchtern war, ist, dass fast alle Menschen in neuen sozialen Situationen erstmal aufgeregt sind.
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Lass mich dazu erstmal klarstellen, dass ich den Dry January damit überhaupt nicht kritisieren will. Immerhin gibt er den Menschen einen „gesellschaftlich akzeptablen“ Grund dafür, mit dem Trinken aufzuhören, die unter besonders starkem Gruppenzwang leiden. Noch dazu variiert die individuelle Beziehung zum Alkohol natürlich von Person zu Person. Je abhängiger du davon bist, desto eher solltest du über einen Entzug mit deinem Arzt oder deiner Ärztin sprechen, bevor du große Veränderungen wagst. Was demnach für mich funktioniert, muss nicht automatisch für dich funktionieren.
Was ich mit diesem Artikel stattdessen sagen will: Einen Monat lang auf Alkohol zu verzichten – vor allem im Kontext vom grauen Januarwetter und direkt nach der Dekadenz der Feiertage –, kann die Vorstellung verfestigen, Entzug und Nüchternheit seien „langweilig“. Millie Gooch, Gründerin der Sober Girl Society, einer Community für nüchterne Frauen, die ihre Beziehung zum Alkohol verändern wollen, sagt dazu: „Viele Leute übertreiben es über die Feiertage vielleicht ein bisschen mit dem Alkohol. Der Dry January kann deinem Körper und Geist dann als dringend nötige Pause dienen. Andererseits gibt es im Januar auch weniger soziale Events, und obwohl das dir erleichtern kann, nichts zu trinken, bekommst du dadurch auch weniger die Chance, dich darin zu üben, soziale Veranstaltungen nüchtern zu bewältigen.“ Das wiederum heißt, dass die Vorstellung einer Party, eines Clubabends oder auch nur eines Restaurantbesuchs ohne Alkohol weiterhin einschüchternd bleibt.
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Ich persönlich kämpfe gegen dieses einschüchternde Gefühl an, indem ich mir mindestens eine soziale Aktivität vornehme, bei der ich früher definitiv getrunken hätte. Das kann erstmal abschreckend wirken – vor allem, wenn du in sozialen Situationen ohnehin schon nervös bist. Ein großes Geheimnis, das mir erst klar wurde, als ich nüchtern war, ist aber, dass fast alle Menschen in neuen sozialen Situationen erstmal aufgeregt sind. Nach einer Stunde lässt das nach, wenn sich alle etwas entspannen – ob nun unter Alkoholeinfluss oder nicht. Diese Nervosität zu bewältigen, wird immer leichter, je öfter du es probierst.
„Diese Taktik, die Unsicherheit einfach auszusitzen, kommt auch bei der Konfrontationstherapie zum Einsatz“, erklärt die pensionierte Psychotherapeutin Dr. Sheri Jacobson. „Du kannst deine Unruhe in solchen Situationen alle zehn Minuten auf einer Skala von 1 bis 10 einordnen und wirst schnell feststellen, dass die Nervosität mit jedem Intervall nachlässt.“
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Es lohnt sich auf jeden Fall, einfach mal auszuprobieren, wie sich ein Abend mit Freund:innen eigentlich ohne Alkohol anfühlt. Und der kann trotzdem genauso chaotisch und albern sein wie mit.
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Sheri betont, dass es aus psychologischer Sicht sehr wichtig ist, Positives mit dem Alkoholverzicht zu assoziieren – ob nun an einem Abend oder generell in der nächsten Zukunft. „Beim Trinken werden Hemmungen gelockert. Das wiederum kann dazu führen, dass wir unter Alkoholeinfluss freier sprechen und uns weniger unsicher fühlen“, erklärt sie. „Kurzfristig bringt uns der Alkohol also ein stärkeres Gefühl von Geselligkeit, und mehr Freiheit. Um mit dem Trinken aufzuhören, sollten wir uns demnach die negativen Konsequenzen des Alkohols vor Augen halten, und daraus positive Konsequenzen des Verzichts erkennen.“
Die positiven Seiten des Entzugs sind für mich ganz klar: Abgesehen von den Vorteilen für die körperliche und geistige Gesundheit (und die sind enorm!) habe ich daraus gelernt, mich in unangenehmen Situationen nicht direkt unsicher zu fühlen. Ich fühle mich entspannter in meiner Haut und kann besser auf meinen Körper hören, wenn er mir mitteilt, er braucht Essen oder Schlaf. In diesen Momenten kann ich mich dann aktiv dafür entscheiden, nach Hause zu gehen – oder noch länger zu bleiben. Euphorie fühlt sich viel stärker an, wenn sie nicht vom Alkohol vernebelt wird. Und natürlich spare ich durch den Alkoholverzicht viel Geld. Geld, das ich dann in anderes investieren kann – ob nun etwas, was ich schon immer mal ausprobieren wollte (Töpfern!), oder kleine Belohnungen (Schokolade!).
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Keine Frage: Trinken kann Spaß machen, und viele von uns sind der Meinung, Alkohol habe in der besten Nacht des eigenen Lebens eine entscheidende Rolle gespielt. Dabei war er vielleicht gar nicht nötig. Ganz egal, ob du nun selbst am Dry January teilnimmst oder nicht: Es lohnt sich auf jeden Fall, einfach mal auszuprobieren, wie sich ein Abend mit Freund:innen eigentlich ohne Alkohol anfühlt. Und der kann trotzdem genauso chaotisch und albern sein wie mit.
Trotzdem solltest du natürlich nicht davon ausgehen, dass schon die erste Nacht ohne Alkohol zur wildesten deines Lebens wird. Eine solche Veränderung kann dauern. Ich bin jedenfalls der lebende Beweis dafür, dass der Verzicht nicht automatisch sämtlichen Spaß kostet.
Wenn du glaubst, selbst ein Problem mit Alkohol zu haben, oder eine Person kennst, bei der das sein könnte, findest du Hilfe auf Kenn-dein-Limit.de oder beim Infotelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Suchtvorbeugung unter 0221 892031.
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