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Warum Long COVID vor allem Feminist:innen ein Dorn im Auge ist

Foto: Leia Morrison
Im Januar 2020 infizierte sich Tara mit dem Coronavirus, als sie in ihre Nachbar:innen hineinlief, die gerade aus dem chinesischen Wuhan zurückgekehrt waren. Als sie sich erholt hatte, beschloss sie, diese Erfahrung hinter sich zu lassen. „Ich dachte mir: ‚Das ist eine verrückte Sache, die da passiert ist, und ich bin wirklich froh, dass ich das Ganze unbeschadet überstanden habe‘“, erzählt sie. Sie begann wieder damit, laufen zu gehen und setzte ihr Studium der Betriebswirtschaftslehre fort.
Drei Monate später wachte Tara auf und fühlte sich krank und erschöpft, aber dieses Mal wurde sie nicht wieder gesund. „Es gab Tage, an denen ich nicht aus dem Bett kam. An den Tagen, an denen mir das gelang, musste ich mich am Ende erst wieder zur Couch schleppen und hinlegen. Ich war extrem müde, mein Kopf tat weh, ich hatte Schmerzen in der Brust und den Gliedern und mein Herz raste. Es fühlte sich an, als brannten meine Organe“, erzählt sie. Ein Jahr, nachdem ihre Symptome zum ersten Mal aufgetreten waren, wurden Taras Atemprobleme so schlimm, dass ihre Lippen blau anliefen und sie in die Notaufnahme musste. Als sie den Ärzt:innen dort erklärte, dass sie COVID hatte, stieß sie auf Skepsis. Man führte einige grundlegende Tests durch, deutete an, dass ihre Symptome mit Angstzuständen zusammenhingen, und schickte sie nach Hause. „Ich war verzweifelt“, sagt sie. „Ich hatte Angst, dass ich nicht überleben würde, aber ich konnte nicht weinen, weil sich jeder Atemzug so anfühlte, als würde mir jemand ein Messer in die Lunge rammen.“
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Lauren Nichols kann Taras Erfahrung gut nachvollziehen, denn sie war auch unter den ersten Personen in ihrem Umfeld, die Long COVID hatten. Lauren ist jetzt Vizepräsidentin von Body Politic, einer weltweiten Selbsthilfegruppe für 20.000 Patient:innen.
„Ich kann dir gar nicht sagen, wie viele Frauen in unserer Gruppe mit ernsten Herz-Kreislauf-Problemen in die Notaufnahme geschickt wurden, nur um dann zu hören, dass sie sich das alles nur einbilden“, erzählt sie. „Dieses Psychologisieren kommt bei unseren männlichen Mitgliedern nicht so häufig vor.“
Vor zwei Jahren verwandelte sich Laurens Infektion in einige chronische Symptome. Als sie irgendwann Zuckungen, Krampfanfälle und tägliche Migräne hatte, suchte sie einen Neurologen auf, der ihr sagte, ihre Migräne sei auf ihre Menstruation zurückzuführen.
„Ich lachte, weil ich menstruiere, seit ich zehn bin“, sagt sie. „Ich begann zu erklären, dass ich eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Long COVID leite und wir viele Personen mit neurologischen Problemen haben. Aber je mehr ich mich informierte, desto weniger wollte er mir helfen.“
Es wird geschätzt, dass 10 bis 30 Prozent der Personen, die sich mit dem Coronavirus infizieren, von Long COVID, auch als Post-COVID-19-Syndrom bekannt, betroffen sind bzw. sein werden. Diese Erkrankung zeichnet sich durch Symptome aus, die zwei Monate oder länger andauern. Eine Doppelimpfung verringert das Risiko um die Hälfte, die Symptome sind unterschiedlich stark ausgeprägt und bei vielen Menschen bessern sie sich mit der Zeit. Bei einem Teil der Long-COVID-Patient:innen kommt es jedoch zu schweren und lang anhaltenden Erkrankungen.
Frauen jungen und mittleren Alters scheinen am stärksten gefährdet zu sein, und es wird berichtet, dass doppelt so viele Frauen wie Männer an Long COVID leiden. Es wird vermutet, dass das robuste weibliche Immunsystem die Wahrscheinlichkeit erhöht, eine Infektion zu überleben, während es diese Frauen gleichzeitig anfällig für chronische Entzündungen und Immundysregulationen macht. Derselbe Mechanismus und eine noch ausgeprägtere geschlechtsspezifische Ungleichheit ist bei der eng verwandten Krankheit, dem Chronischen Erschöpfungssyndrom (auch Myalgische Enzephalomyelitis oder ME/CFS), zu beobachten, bei der bis zu 80 Prozent der Patient:innen weiblich sind.
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Wenn das Gesundheitssystem nicht funktioniert, wie es sollte

Dr. Amy Proal ist Mikrobiologin und leitet die COVID-bezogene Forschung bei der PolyBio Foundation in den USA. Sie ist der Ansicht, dass vier Faktoren dazu beitragen, dass Frauen zu Gaslighting-Opfern der Medizin werden. Erstens: Bei den meisten der oben erwähnten Symptome und Krankheiten sehen die Patient:innen nicht krank aus, sodass es Behandelnde gibt, die skeptisch sind und Betroffenen nicht zu glauben scheinen. Zweitens wird für Erkrankungen, von denen Frauen betroffen sind, deutlich weniger Forschungsgeld bereitgestellt, und je weniger finanzielle Mittel es fürs Erforschen einer Krankheit gibt, desto weniger wissen wir über sie. Drittens können Ärzt:innen mit Standard-Bluttests nur einen winzigen Bruchteil dessen erkennen, was im menschlichen Körper vor sich geht. Und viertens ist unser medizinisches System so strukturiert, dass Konsultationen nicht zu lange dauern sollen, um so vielen Menschen wie möglich helfen zu können. Das nimmt Ärzt:innen aber die Gelegenheit, komplexe Krankheiten genauer unter die Lupe zu nehmen.

Diese Angelegenheit ist ein Problem, das nicht warten kann, sondern so schnell wie möglich gelöst werden muss. Auf der ganzen Welt gibt es eine große Zahl von Patient:innen, die an Long COVID leiden. Wir müssen die Art und Weise, wie wir über diese Krankheiten denken, rasch ändern.

DR. AMY PROAL
„Du siehst also gesund aus, deine Symptome stimmen nicht mit den medizinischen Lehrbüchern überein, alle deine Testergebnisse sind normal, und jetzt ist es Zeit, sich dem nächsten Patienten oder der nächsten Patientin zu widmen“, erklärt Dr. Proal.
Das Team von PolyBio untersucht, wie virale, bakterielle und pilzartige Krankheitserreger chronische Krankheiten auslösen. „Wir sehen die Entwicklung chronischer Symptome nach einer akuten Infektion keineswegs als neue Information an. Es ist eher so, dass Forschung in Bezug auf Krankheiten wie die Myalgische Enzephalomyelitis unterfinanziert ist, wodurch sie nicht ausreichend erforscht und weitgehend ignoriert werden“, sagt sie. Sie glaubt, dass es an der Zeit ist, das Gesundheitssystem grundlegend zu ändern. „Diese Angelegenheit ist ein Problem, das nicht warten kann, sondern so schnell wie möglich gelöst werden muss. Auf der ganzen Welt gibt es eine große Zahl von Patient:innen, die an Long COVID leiden. Wir müssen die Art und Weise, wie wir über diese Krankheiten denken, rasch ändern.“
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Dr. Heidi Nicholl ist Direktorin der Open Medicine Foundation, die dabei hilft, komplexe Krankheiten zu erforschen. Sie stimmt zu, dass die Kernprobleme systemisch sind. „Ich treffe selten Ärzt:innen, die etwas anderes als den Wunsch haben, Menschen zu helfen. Das Problem liegt in der Art und Weise, wie Forschung finanziert wird“, erklärt sie.

Chronische Krankheiten verschärfen das Problem

Als medizinische Forscherin mit einer chronischen Krankheit möchte Anna Liza Kretzschmar verstehen, wie sich Erkrankungen, die mit einem Stigma behaftet sind, auf Frauen auswirken. Sie hat ein persönliches Interesse daran: Nachdem bei ihr ME und Fibromyalgie diagnostiziert worden waren, begann sie unter starken Magenschmerzen zu leiden. Ihr Gynäkologe meinte daraufhin, dass sie lernen müsse, mit ihren chronischen Krankheiten zu leben. Anna Liza war aber überzeugt, dass hinter diesem Schmerz mehr stecke. „Es fühlte sich an, als würde mich jemand ausnehmen“, erzählt sie. „Es war, als ob jemand ein Messer in die rechte Seite meines Unterleibs gerammt hätte.“
Jahrelang ging sie bei akuten Anfällen in die Notaufnahme und erhielt keine Antworten. Schließlich machte Anna Liza eine spezialisierte Fachkraft ausfindig, die bei ihr Endometriose im vierten Stadium diagnostizierte. In einer mehrstündigen Operation wurde das gesamte Endometriumgewebe rund um ihre Gebärmutter entfernt. „Wenn du an einer Krankheit leidest, die mit einem Stigma einhergeht, schieben Ärzt:innen jedes neue Gesundheitsproblem auf diese Krankheit“, sagt sie. „Sie sehen dich nicht mehr als Mensch, der es wert ist, behandelt zu werden.“
Lauren wies auch auf den Zusammenhang zwischen Long COVID und Endometriose hin, also chronische, sich überschneidende schmerzliche Zustände. „Was die Body-Politic-Community besonders enttäuschend findet, sind die fehlenden Gespräche darüber, wie Long COVID das weibliche Fortpflanzungssystem beeinflusst“, sagt sie. Sie sieht jeden Monat Tausende von Frauen mit furchtbaren Schmerzen, weil das Post-COVID-19-Syndrom ihren Menstruationszyklus komplett durcheinander bringt. „Wir kriegen mit, wie Frauen Endometriose oder prämenstruelle Dysphorie entwickeln oder erhebliche Schmerzen beim Sex haben. Es besteht eine Diskrepanz zwischen den Auswirkungen, die all das auf die Gesundheit von Frauen hat, und dem Interesse der Forschungsgemeinschaft.“
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Es gibt noch unglaublich viel zu tun

Zwei Jahre nach ihrer ersten Diagnose hat sich Taras Gesundheitszustand verbessert, aber sie ist immer noch frustriert darüber, wie sehr die Medizinwelt den Kopf in den Sand steckt, wenn es ums Thema Long COVID geht. „Wir müssen mehr Bewusstsein für das Post-COVID-19-Syndrom und damit verbundene Symptome schaffen. Dafür brauchen wir mehr Aufklärung. Außerdem müssen Patient:innen stärker miteinbezogen werden. Ärzt:innen behandeln Patient:innen, ohne ausreichend über Long COVID informiert zu sein. Das ist eine Schande.“
Lauren rät Betroffenen dazu, ihrem Körper zu vertrauen, zu lernen, für sich selbst einzutreten und sich der blinden Flecken der Medizinwelt bewusst zu sein. Sie erzählt, dass sie Kraft darin gefunden hat, dass es Gemeinschaften und Bewegungen gibt, die sich dafür einsetzen, dass sich die Lage zum Besseren wendet. „Es ist so wichtig, zu wissen, dass du nicht allein mit dieser Krankheit und den damit verbundenen Schwierigkeiten bist – vor allem angesichts des fehlenden Bewusstseins, das es noch in Hinsicht auf Long COVID gibt.“
Natalia Hodgins ist Autorin und Rednerin und setzt sich für Menschen mit Be_hinderungen ein. Mit ihrer Arbeit kämpft sie um Gleichheit im Gesundheitssystem, der Gerechtigkeit für Menschen mit Be_hinderung und geschlechtsspezifische Themen.

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