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Meine Essstörung zwang mich dazu, während Corona meinen Veganismus zu lockern

Foto: Kate Anglestein.
s war ein Spiegelei, das mich schließlich schwach machte.
Etwa vier Monate nach dem Beginn der Pandemie kochte und ernährte ich mich schon seit circa fünf Jahren vegan. Ganz selten hatte ich während dieser Zeit mal ein Chicken Nugget gegessen, wenn ich betrunken war; von den Prinzipien des Veganismus hatte ich mich aber nie bewusst verabschiedet. Bis zu einem der endlosen Tage des Homeoffice-Lifestyles von 2020, an dem ich Heißhunger auf einen Spiegelei-Bagel bekam. Nichts anderes half gegen dieses Verlangen – also machte ich mir einen, aß ihn, und nach der ersten Welle der Schuldgefühle schmeckte er mir auch richtig gut. Im Gegensatz zu meinen weinbedingten Chicken-Nugget-Ausrutschern war das hier aber kein einmaliges Ding, keine Ausnahme. Dieser Bagel fühlte sich an wie ein Schalter in meinen Essgewohnheiten. Ich neige zu zwanghaftem Verhalten, und wenn eine Lockerung meines Veganismus mir die Pandemie erleichtern würde, wusste ich: Es war besser, meinem Verlangen nachzugeben, als mich dagegen aufzustemmen.
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Von diesem Punkt an verzichtete ich nicht mehr auf Eier. Heute kaufe ich mir außerdem manchmal laktosefreien Käse, und letzten Monat am Meer aß ich zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder Fish & Chips.
Veganismus, Vegetarismus und Flexitarismus sind in den letzten Jahren immer beliebter geworden – vor allem während Corona. Während der Pandemie hat sich die Zahl der Vegetarier:innen und Veganer:innen in Deutschland verdoppelt. Bei zehn bzw. zwei Prozent der Gesamtbevölkerung sind das zwar immer noch vergleichsweise wenige Menschen – trotzdem zeigen diese Zahlen, wie sehr sich für viele von uns während einer globalen Krise die Prioritäten geändert haben
Ich habe mich mit anderen unterhalten, die ihre pflanzenbasierte Ernährung während der Pandemie ein wenig gelockert haben. Die Gründe dafür variierten, aber jede:r von ihnen ist der Überzeugung, dass ihnen ein flexibleres Essverhalten prinzipiell gut tat – und auch ihrem Blick auf unseren Planeten.
Mel zum Beispiel. Vor der Pandemie hatte sie sich schon zwei Jahre lang vegetarisch ernährt und entschied sich aktiv für vegane Optionen, wo das möglich war. Ihre Motivation dahinter: „Ich liebe Gemüse! Wann immer ich Fleisch aß, war das Gemüse immer nur eine Beilage. Ich wollte es aber zum Haupt-Event machen.“ Als dann allerdings die Pandemie losging und die Leute anfingen, die Supermarktregale leerzukaufen, löste das in Mel etwas aus. „Ich habe dank lebenslanger Probleme eine komplizierte Beziehung zum Essen und meiner Ernährung“, erzählt sie. „Als ich dann sah, wie leer die Regale im Supermarkt plötzlich waren und wie die Leute hamsterten, triggerte das bei mir einige Neurosen.“ Damit meint sie zum Beispiel die Phase, in der Milch-Alternativen plötzlich überall ausverkauft waren. „Ich machte mir Sorgen, dass ich nicht mehr das würde essen können, woran ich mich gewöhnt hatte, und nicht genug Lebensmittel bekommen würde. Also hörte ich auf, mich vegetarisch zu ernähren, und aß wieder öfter Fleisch und Milchprodukte.“
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Auch für Aisling war die Entscheidung pandemiebedingt. In der Vergangenheit hatte er:sie sich streng vegetarisch ernährt, weil seine:ihre Familie für so etwas nicht sonderlich offen war. „Ich glaube, viele dachten, ich würde mich nur vegetarisch ernähren, um mit Traditionen zu brechen“, erzählt er:sie. „Andere sahen es als pingelig oder naiv.“ Als er:sie während der Pandemie zurück nach Hause zog und plötzlich nicht mehr allein wohnte, musste er:sie sich beim Essen an anderen orientieren. Diese fehlende Kontrolle fiel Aisling schwer – also ließ er:sie sich auf einen Kompromiss ein.
„Ich habe persönliche Erfahrungen mit Essstörungen gemacht und der Stress der Pandemie hat einige dieser Gefühle und Tendenzen definitiv verschlimmert“, erzählt er:sie. „[Bei meinen Eltern] hatte ich nicht das Gefühl, mir einfach mein eigenes Essen kochen zu können, also ließ ich mich darauf ein, ein- bis zweimal pro Woche Fisch zu essen. Meine Schwester und ich überredeten meine Mutter außerdem dazu, uns an ein, zwei Tagen pro Woche die Küche zu überlassen, damit wir für sie und Dad kochen konnten. Da konnte ich dann öfter mal vegetarisch kochen. Die Entscheidung, Fisch zu essen, war letzten Endes ein Kompromiss, um meine Beziehung zu meiner Familie zu verbessern – insbesondere rund um die Essenszeit.“
Über pragmatische Gründe wie diese hinweg müssen wir dabei natürlich auch noch den psychologischen Effekt der Pandemie bedenken. Wie auch Mel und Aisling leidet Eilish unter einer schwierigen Beziehung zum Essen, ebenfalls wegen vergangener Essstörungen. Für sie brachten der Vegetarismus und Veganismus ein gewisses Maß an Kontrolle, mit dem sie gleichzeitig dem Planeten etwas Gutes tun konnte, was ihr wichtig war. Als sie allerdings an Corona erkrankte, musste sie diese Dynamik hinterfragen.
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„Ich steckte mich mit Corona an und verlor eine Zeit lang meinen Geschmackssinn. Das machte mir echt Angst“, erzählt sie mir. „Es ließ mich erkennen, dass ich meine Ernährung viel zu stark eingeschränkt hatte. Ich begriff: Ich hatte mich viel mehr von meiner Essstörung und dem Bedürfnis nach Kontrolle zum Veganismus motivieren lassen, als von meiner Sorge um unsere Umwelt. Das zuzugeben, fällt mir schwer. Der erste Tag, an dem ich ‚nachgab‘, war ein Feiertag – also hatte ich ein ‚Feiertagsfrühstück‘. Klar fühlte ich mich anfangs total schuldig dafür, aber das ließ irgendwann nach.“

Nach Corona werde ich mich deutlich besser dabei fühlen, ein Käsetoast im Café die Straße runter zu kaufen, das unter der Pandemie gelitten hat, als mir das neueste massenproduzierte Fake-Fleisch zu kaufen.

Eilish
Alle, mit denen ich mich darüber unterhielt, wurden durch die Pandemie dazu gezwungen, ihre Motivation hinter strengeren Essgewohnheiten zu hinterfragen. Und obwohl sich striktere Ernährungsformen wie Vegetarismus und Veganismus natürlich nicht automatisch auf die geistige Gesundheit auswirken, können sie bei Leuten, die ohnehin schon zu Zwangsverhalten oder Essstörungen neigen, riskant werden. Krisenzeiten zeigen uns umso deutlicher, welche Verhaltensweisen wir uns antrainiert haben – und an welche davon wir uns klammern, obwohl sich womöglich auf unsere geistige Gesundheit auswirken.
Das heißt natürlich nicht, dass die Sorge um unsere Umwelt oder die Nachhaltigkeit unserer Lebensmittel in den Hintergrund rücken sollte. Viele haben aber inzwischen für sich entschieden, diese Verantwortung nicht mehr als ihre persönliche Aufgabe zu betrachten, und suchen sich nun neue Möglichkeiten, um nachhaltiger zu leben. Alle, mit denen ich gesprochen habe, betonen, sich immer noch hauptsächlich – aber nicht ausschließlich – vegetarisch oder vegan zu ernähren (oder es zumindest wieder vorzuhaben). Für einige bedeutet das, wie gehabt zum veganen Kochen zurückzukehren; andere konzentrieren sich jetzt lieber darauf, regional und Bio zu kaufen. Andere wiederum wollen vorrangig kleine Geschäfte unterstützen. Ich persönlich werde in Zukunft nicht mehr aktiv auf Fisch oder Eier verzichten, wenn die Essenszubereitung nicht in meinen Händen liegt – und mich gelegentlich über ein Käse-Pilz-Omelette freuen.
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„Ich denke, es fiel mir einfach leichter, mich bewusst für Fisch zu entscheiden, als ich meine Essgewohnheiten noch aus Prinzip eingeschränkt habe. Nicht, weil ich das wirklich wollte oder musste“, meint Aisling.
„Ich glaube, durch die Pandemie betrachte ich die Gesellschaft eher im praktischen, weniger im theoretischen Sinn“, ergänzt Eilish, „und nach Corona werde ich mich deutlich besser dabei fühlen, ein Käsetoast im Café die Straße runter zu kaufen, das unter der Pandemie gelitten hat, als mir das neueste massenproduzierte Fake-Fleisch zu kaufen.“
Die Entscheidungen, die wir rund um unsere Ernährung treffen, sind nur ein Teil des komplizierten Netzes aus persönlichem Geschmack, politischen Werten, finanziellen Bedingungen und äußerem Druck. Deinen persönlichen Weg einzuschlagen, auf dem du das Gefühl hast, weder der Welt noch dir selbst zu schaden, ist schwierig – aber letztlich voll und ganz deine Entscheidung. 

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