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Ich darf nur noch glutenfrei essen & trauere meinem alten Leben nach

Foto: Alexandra Gavillet.
Als Kirsten Robertson, 27, vor sechs Jahren von ihrer Zöliakie erfuhr, beschloss sie, sich eine allerletzte glutenhaltige Mahlzeit zu gönnen. „Das war quasi mein ‚letztes Abendmahl‘“, sagt sie und erinnert sich daran, wie ihre Mitbewohnerin damals aus dem Supermarkt nach Hause kam, beladen mit Weißbrot, warmen Croissants und Schokokeksen. Nachdem Kirsten damit ihr liebstes glutenhaltiges Essen ein letztes Mal verspeist hatte, bekam sie am nächsten Tag eine Magenspiegelung, um die Diagnose zu bestätigen – und daraufhin veränderte sich ihre Ernährung für immer.
Sie wusste danach, dass sie damit aufhören musste, das Brot, die Kekse und andere glutenhaltige Lebensmittel zu essen, die sie eigentlich so liebte. Wenn du nämlich Zöliakie hast und trotzdem Gluten isst, greift das Immunsystem das Körpergewebe an; selbst ein versehentlicher Glutenkonsum kann schlimme gesundheitliche Konsequenzen für den Dünndarm haben und ihn davon abhalten, Nährstoffe aufzunehmen – was wiederum zu weiteren Gesundheitsproblemen führen kann.
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Es wird davon ausgegangen, dass in Deutschland jeder 200. bis 300. Mensch von Zöliakie betroffen ist. Für sie ist es nicht nur allein organisatorisch eine Herausforderung, Gerichte oder Snacks nicht mehr essen zu können, die sie vorher vielleicht genossen haben; es kann auch ein starker emotionaler Verlust sein. Das liegt auch damit zusammen, dass das Essen in unserer Gesellschaft eine riesige Rolle spielt. 
„Vor meiner Diagnose habe ich es geliebt, mit Freund:innen beim Essen zusammenzusitzen“, erzählt Kirsten. „In meiner WG machten wir jede Woche Pizza oder Pancakes, und während meines Studiums war die 5-Euro-Pizza aus dem Laden um die Ecke mein Go-To. Ich war nie eine mäkelige Esserin, und wollte immer alles probieren. Als Studentin war ich oft allein im Urlaub und überlegte mir nie vorher, wo und was ich denn essen wollte. Ich kaufte mir spontan ein Baguette hier oder einen Kuchen dort, ohne weiter drüber nachzudenken.“
Heute ist das anders. „Essen ist für mich inzwischen eher eine pragmatische Sache als eine spontane Freude. Ich lade meine Freund:innen nicht mehr so oft zum Essen zu mir ein, weil ich nicht will, dass sie mein glutenfreies Zeug essen müssen. Das Brot zerfällt, die Pasta schmeckt nicht so gut, und das Essen ist generell auch einfach teurer. Ich trauere meiner früheren Liebe zum Essen doch sehr hinterher und weiß heute, wie glücklich ich mich damals hätte schätzen wollen, alles essen zu können.“

Die Konsequenzen einer Zöliakie-Diagnose

Die Psychotherapeutin Caroline Plumer erklärt, dass diese Trauer tatsächlich ganz normal ist, wenn erwachsene Betroffene eine solche Diagnose erhalten. „Es ist ein Verlust, nicht mehr dasselbe Essen genießen zu können, das wir früher geliebt haben, und gleichzeitig mitansehen zu müssen, wie es andere auch weiterhin genießen können. Eine solche Ernährungsumstellung erfordert viel Willenskraft, und leider fühlt es sich manchmal extrem unfair an. Bei jeder Form von Verlust – selbst im Zusammenhang mit Essen – ist Trauer etwas ganz Normales. Den Zugang zu Lebensmitteln zu verlieren, die du früher geliebt hast, und womöglich auch nicht mehr die Gelegenheit zu haben, dein Essen wie früher mit anderen zu teilen, kann schmerzhaft sein. Es dauert, bis man sich damit abgefunden hat. Immerhin haben wir alle gern die Kontrolle über unsere eigenen Entscheidungen. Gesagt zu bekommen, dass wir etwas nicht mehr essen dürfen, entzieht uns diese Entscheidungsfreiheit. Im Fall der Zöliakie kann es uns außerdem das Gefühl vermitteln, unser Körper arbeite gegen uns.“
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Für viele Betroffene bedeutet die Diagnose daher einen längeren Leidensweg. Kirsten ließ sich untersuchen, als ihr irgendwann nach dem Essen regelmäßig schlecht war und später an Anämie (Blutarmut) litt. Zuerst war sie „naiv“, sagt sie – weil sie gar nicht gewusst hatte, wie viele Lebensmittel tatsächlich Gluten enthalten. „Ich wusste, dass es in Brot und Pasta zu finden ist, aber das war’s auch schon. Gluten – sprich: Weizen, Gerste und Roggen – ist aber in so vielen Sachen enthalten: Chips, Saucen, Suppen oder auch Schokolade“, erzählt sie.
Tatsächlich hat sich ihre Krankheit somit auf ihre Liebe zum Essen ausgewirkt, und sie hat die Freiheit verloren, überall quasi alles essen zu können. Selbst Urlaube sind für sie nicht mehr so schön wie früher, weil sie sich immer Sorgen machen muss, zu den Mahlzeiten Probleme zu bekommen. Ihre Zöliakie hat sich somit auf diverse Lebensbereiche ausgewirkt. Ein akademisches Essay mit dem Titel „Controlled by Food“ beschreibt das folgendermaßen: „Die Auswirkungen der Zöliakie auf das Leben Betroffener sind weitreichender und diverser als erwartet. Es ist wichtig, bei der Behandlung daher auch psychologische und soziale Aspekte zu berücksichtigen.“ Seit diesem Essay sind fast zwei Jahrzehnte vergangen, und die Situation hat sich – zumindest nach Kirstens Erfahrung – kaum verändert.

Zöliakie & Angstzustände beim Essen

Essen ist für Kirsten inzwischen zu einem angstbehafteten Thema geworden. Sie isst daher am liebsten zu Hause, oder nimmt sich Snacks mit, wenn sie sich beispielsweise mit Freund:innen in einer Bar trifft. Am besten lässt sich ihre innere Unruhe rund um das Essen hiermit zusammenfassen: „Selbst wenn ich zu Hause koche, durchwühle ich immer nochmal den Verpackungsmüll, um nachzulesen, ob das Essen auch wirklich glutenfrei ist.“ Zu den Anzeichen dafür, dass Zöliakie-Erkrankte versehentlich Gluten konsumiert haben, gehören unter anderem Bauchschmerzen, Verstopfung, Durchfall oder ein Völlegefühl. Und Kirsten muss sich tatsächlich danach mehr als einen Tag lang immer wieder übergeben.
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Die Allgemeinmedizinerin Dr. Claire Merrifield erklärt, dass sich die Angst rund ums Essen für Betroffene jedoch reduzieren lässt, wenn die behandelnden Ärzt:innen den nötigen Support liefern und die Zöliakie gründlich erklären. Dafür fehlt es vielen Mediziner:innen aber schlichtweg an Zeit. „Wenn man mit dir als Patient:in nicht gründlich genug darüber spricht, was diese Krankheit für dich bedeutet, kann das Angstzustände rund ums Essen auslösen.“ Merrifield zufolge ist es daher entscheidend, dir ärztliche Hilfe zu holen, wenn du solche Ängste bemerkst. Kirsten meint, sie habe von ihren Ärzt:innen keine Ratschläge dazu bekommen, wie sie ihren Lifestyle quasi über Nacht umstellen solle. Das Meiste ihres Wissens hat sie aus Facebook-Gruppen. „Nach der Magenspiegelung fühlte es sich so an, als hätte man mich einfach in einer unbekannten Welt ausgesetzt“, sagt sie.
Auch die 27-jährige Beth Tebboth kennt dieses Gefühl. Sie bekam ihre Diagnose mit 23 und hat seitdem einen zweiten Instagram-Account erstellt, auf dem sie einige ihrer Mahlzeiten und ihr neues, glutenfreies Leben dokumentiert. „Ich hatte früher viel Freude an gutem Essen, vor allem an Selbstgekochtem und -gebackenem. Ich habe mich jedes Mal gefreut, wenn jemand einen Kuchen mit ins Büro gebracht hat. Vor allem liebte ich Spaghetti Bolognese, Steak, Pommes, Brot, Donuts, Kekse und Schokolade.“ 
Obwohl die Diagnose für sie zwar erst eine große Erleichterung war, weil sie endlich wusste, was mit ihrem Körper „nicht stimmte“, kann sie sich immer noch an den Abend vor ihrer Magenspiegelung erinnern, an dem sie beschloss, zum letzten Mal einen Donut und Schokolade zu essen. „Als mir klar wurde, dass ich darauf von da an verzichten müssen würde, hatte ich das Gefühl, etwas zu verlieren. Das machte mich wütend und traurig“, sagt sie. „Ich glaube, heute kenne ich mich mit Essen viel besser aus. Ich weiß sogar viel mehr, als ich wissen will. Wenn ich mit Freund:innen zusammen bin, komme ich mir oft ‚anders‘ vor, weil ich nicht dasselbe Essen genießen kann wie sie oder darum bitten muss, dass auf mich Rücksicht genommen wird. Glutenfreie Alternativen sind heutzutage zwar besser als früher. Ich denke aber trotzdem oft darüber nach, wie viel besser manches schmecken würde, wenn ich doch nur die ‚echten‘ Versionen essen könnte.“
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Diese gemischten Gefühle rund um die Zöliakie können vor allem beim Essen eine Last sein. „Ich versuche, mich nicht davon deprimieren zu lassen, dass ich etwas nicht essen kann. Wenn ich aber ohnehin schon emotional bin oder einen schlechten Tag habe, kann ich doch enttäuscht oder wütend werden, wenn es für mich keine Essensoption gibt“, erzählt Beth. „Manchmal habe ich den Eindruck, dass andere von mir erwarten, ich würde jede glutenfreie Alternative total genießen. Ich bin aber immer noch ein Mensch und habe einen eigenen Geschmack. Da kann es stressig sein, nett zu lächeln und etwas essen zu müssen, das mir eigentlich gar nicht schmeckt.“

Die Kosten einer glutenfreien Ernährung

Noch dazu ist es deutlich teurer, sich glutenfrei zu ernähren. In manchen Ländern bezuschusst der Staat bei Betroffenen einer diagnostizierten Zöliakie die Ernährung; in Deutschland kann man dafür einen Grad der Behinderung beantragen, der wiederum einen Steuerfreibetrag mit sich zieht. Das bedeutet einen Pauschalbetrag von 384 Euro pro Person in der Steuererklärung.
Übrigens sind rund 60 bis 70 Prozent aller Zöliakie-Erkrankten weiblich. Warum? Ein Verdacht ist der, dass Autoimmunerkrankungen Frauen aufgrund hormoneller Veränderungen häufiger betreffen als Männer; eine sichere Antwort gibt es darauf aber noch nicht. In Italien, einem besonders glutenlastigen Land, sprechen die Zahlen aber eine deutliche Sprache: Fast 146.000 der dort etwa 207.000 Erkrankten sind Frauen.
Beth vergaß vor Kurzem morgens ihre Handtasche zu Hause – und somit auch ihr Frühstück und Mittagessen. Die Suche nach glutenfreien Optionen war für sie sehr schwierig. Alles, was sie fand, waren zwei Sandwiches in einem Bahnhofsgeschäft. Das kann frustrierend sein. Wenn sie nicht „verantwortlich“ für die Restaurantwahl bei Treffen mit ihren Freund:innen ist, hat sie manchmal das Gefühl, „dass andere nicht richtig verstehen, welche Nervosität ich mit sowas verbinde, und was ich alles berücksichtigen muss, bevor ich mich für ein Restaurant entscheiden kann“. 
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„Ich glaube, ich werde immer traurig darüber sein, kein Gluten essen zu können – und der Freiheit hinterhertrauern, die ich früher genossen habe“, fügt sie hinzu. „In manchen Momenten wünsche ich mir so sehr, ein KitKat oder ein paar Chips snacken zu können, und dann bin ich deprimierend. Es ist aber immer wieder schön, andere Betroffene zu treffen – denn die verstehen das genau.“
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