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Lasst uns ändern, wie wir über pandemiebedingte Gewichtszunahme sprechen

Foto: Getty Images
Anfang Mai 2020 bekam ich zum ersten Mal E-Mails, die den „Quarantine 15“, also den pandemiebedingten Extra-Kilos, den Kampf ansagten. Wie sehr hoffte ich doch damals, dass sich dieser Begriff bloß als ein flüchtiges Buzzword herausstellen würde. In meinen Augen waren die Botschaften, die mit diesem Begriff in Verbindung gebracht wurden, nämlich gefährlich. Außerdem hatten wir Wichtigeres zu tun, als uns den Kopf über Corona-Speck zu zerbrechen.
Leider ist diese Bezeichnung zum Schlagwort geworden. Jetzt, da alles langsam wieder seinen normalen Lauf nimmt, ist diese Phrase auch wieder in aller Munde. Immer mehr Firmen versprechen, Konsument:innen dabei zu helfen, ihre Quarantine 15 zu verlieren (eine Anspielung auf das toxische und problematische Konzept des geflügelten Wortes Freshman 15, das beschreibt, dass US-Student:innen in ihrem ersten College-Jahr durchschnittlich um die 15 Pfund, also etwa sieben Kilo, zunehmen).
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Die Botschaften rund ums Thema Gewichtsverlust am Ende der Pandemie erreichen uns nicht nur aus der Werbung, sondern auch in Form von Memes und mittels Mainstream-Medien. Artikel, die Leute beschämen, weil sie im schlimmsten und stressigsten Jahr ihres Lebens zugenommen haben, sind in letzter Zeit häufig vorzufinden. „Während einige von uns die letzten Monate auf ihren Hometrainern verbrachten und damit, gesunde Mahlzeiten zuzubereiten, gehen viele andere auf weniger gesunde Weise mit ihrer Angst und Langeweile um“, schrieb die New York Times. „Viele verbrachten die Pandemie damit, auf ihren Sofas zu liegen, schlabbrige Jogginganzüge zu tragen, Chardonnay zu trinken und Snacks zu mampfen.“ So wurde nicht nur eine Zweiteilung geschaffen, wo keine nötig ist (zu Hause zu trainieren und sich Naschereien zu gönnen, müssen einander ja nicht ausschließen; im Gegenteil: Du kannst sogar beides gleichzeitig tun!), sondern auch ein Umfeld, das Menschen, speziell Frauen, für ihr Gewicht und ihre Ernährungsweise beurteilt.

Dr. Joy Cox, eine Verfechterin von Körperakzeptanz, Programmentwicklungsanalystin an der Rutgers New Jersey Medical School und Mitbegründerin der Fitness-App Jabbie, äußert sich folgendermaßen zu Quarantine 15: „Dabei handelt es sich um ein altes Konzept in neuem Gewand, das in unrealistischen Schönheitsstandards und unserer Diätkultur verwurzelt ist… Besonders bei Frauen spielt das Aussehen eine große Rolle. Dieses Buzzword veranschaulicht, dass wir als Gesellschaft dünnere Körper mehr schätzen.“

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„Wir alle versuchen, diese schwierigen Zeiten so gut wie möglich zu meistern. Mit diesem Hintergrund scheint es so unwichtig, Gewichtszunahme in den Vordergrund zu stellen“, sagt Chelsea M. Kronengold, Associate Director of Communications beim amerikanischen Landesverband für Essstörungen (National Eating Disorders Association, kurz: NEDA). Dieser Diskurs kann nicht nur während einer Pandemie Schaden anrichten, fügt sie hinzu. Je mehr wir uns mit dem Thema Gewichtsverlust beschäftigen, während wir uns auf die Rückkehr zur Normalität zubewegen, desto mehr kann sich unsere Angst, am Ende gut aussehen zu müssen, verstärken. Dieser Druck könnte Menschen dazu veranlassen, Crash-Diäten auszuprobieren. Das wiederum kann zu einem Anstieg von Essstörungen führen. Immerhin wissen wir bereits, dass diese in Isolation gedeihen, sagt Kronengold.
Ernährungswissenschaftlerin Kristin Kirkpatrick ist jedoch nicht unbedingt gegen den Begriff. Sie sagt, dass er auf einige Patient:innen beruhigend wirkt, indem er ihnen das Gefühl gibt, nicht die einzige Person zu sein, die während der Pandemie zugenommen hat. Viele der anderen Expert:innen, mit denen ich sprach, betonten aber, dass diese Phrase mehr Schaden anrichtet als Gutes tut.
Verhaltensweisen und Einstellungen wie Fat-Shaming und Fettphobien haben durch die Pandemie zugenommen oder sich verschlimmert, vor allem dann, als ein Zusammenhang zwischen dem Gewicht einer Person und COVID-19-Komplikationen hergestellt wurde. Begriffe wie Quarantine 15 sind von Natur aus schambehaftet. „Jemanden zu beschämen, bringt aber absolut niemanden dazu, Gewicht zu verlieren… und Gewicht ist sowieso nicht unbedingt ein Indikator für Gesundheit“, hebt Kronengold hervor.
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„Mich interessiert, wie Stigmata rund um unser Gewicht das wahrgenommene Risiko [von schwereren Fällen von COVID-19] beeinflussen. Wir wissen ja bereits, dass Beschämen schwerwiegende Auswirkungen hat: Betroffene nehmen nicht ausreichend Gesundheitsfürsorge in Anspruch, lassen zu wenige präventive und diagnostische Tests durchführen, etc. – ein Verhalten, das zu einer Vielzahl von negativen gesundheitlichen Folgen führt“, meint Ernährungswissenschaftlerin Kimmie Singh.
Expert:innen meinten auch, dass die Rhetorik, die mit Quarantine 15 verbunden ist, ein wenig hilfreiches Narrativ in Bezug auf den Körper antreibt. „Es ist nicht nur fettfeindlich und impliziert, dass ein dicker Körper etwas ist, das man aktiv vermeiden sollte… Es setzt auch voraus, dass der Versuch, die Körpergröße zu kontrollieren, ein lohnenswertes Ziel ist, obwohl wir wissen, dass ein Fokus auf Gewichtsverlust eher zu einem Jo-Jo-Effekt und Essstörungen führt“, sagt Singh. „Es ist bekannt, dass Diäten langfristig nichts bringen, und wenn man dann so viel Druck auf eine Gruppe von Menschen ausübt, nach diesem Trauma auch noch Gewicht zu verlieren?“ Ihre Frage ist zwar rhetorisch, aber der Punkt, den sie macht, ist klar: Das kann zu einem ernsten Problem werden.
„Hier sind biologische, genetische und umweltbedingte Faktoren im Spiel, die jemanden dazu bringen können, eine Essstörung zu entwickeln oder einen Rückfall zu erleiden. Manche Menschen sind für diese Art von Botschaften und kulturellem Druck empfänglicher als andere“, fügt Kronengold hinzu. „Viele Menschen, die ein gestörtes Essverhalten aufweisen, anfällig dafür sind oder sich von einer Essstörung erholen, sind ohnehin schon überzeugt davon, dass sie abnehmen müssen. Durch all diesen gesellschaftlichen Druck, dem wir ausgesetzt sind und der zurzeit besonders groß ist, werden diese inneren selbstkritischen Stimmen nur bestätigt und damit verstärkt. Unter solchen Umständen kann sich eine bestehende Essstörung verschlimmern.“
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All das passiert zu einer Zeit, in der Essstörungen bereits auf dem Vormarsch sind. Während der Pandemie ist die Zahl der Anrufe beim amerikanischen Landesverband für Essstörungen (National Eating Disorders Association) um 54 Prozent angestiegen, sagt Kronengold. Sie erwartet, dass die Zahl der Betroffenen steigen wird, je mehr Artikel herauskommen, die sich fürs Loswerden der pandemiebedingten Extra-Kilos starkmachen.
Obwohl wir uns wünschen, dass die Phrase immer weniger Anklang finden wird, ist es nicht sicher, ob das tatsächlich eintreffen wird. Wenn du in der geistigen Lage bist, dich solchen Botschaften zu widersetzen, solltest du es auf jeden Fall tun. Mach es aber auch nur dann, wenn du wirklich die dafür nötige Energie hast, sagt Dr. Cox. Wenn diese Phrase schwierige Emotionen hervorruft, ist es wichtig, dich zuerst zu schützen.
„Überleg, was du in deinem Newsfeed zulassen möchtest“, sagt sie. Facebook und Instagram haben eine Funktion, mit der du alle Anzeigen von bestimmten Werbetreibenden ausblenden oder sogar melden kannst. Wenn Leute, denen du folgst, zum Thema Gewichtsverlust posten oder ständig Vorher-Nachher-Fotos hochladen, ist es in Ordnung, damit aufzuhören oder zumindest ihre Beiträge auszublenden.
Wenn du diese Nachrichten hörst oder körperbezogene Ängste verspürst, empfiehlt sie, „deinen Fokus neu auszurichten und dich nicht auf die Idee von ‚Image‘ als ‚Funktion‘ zu versteifen. Denk daran, dass du dank deines Körpers die Pandemie überstanden hast.“ Mit anderen Worten: Versuch, dich darauf zu konzentrieren, dankbar dafür zu sein, was dein Körper für dich getan hat, und im weiteren Sinne für die neuen Erfahrungen, die wir wieder machen werden können. „Ich habe eine jüngere und eine ältere Schwester. Wir drei leben in verschiedenen Städten“, sagt Dr. Cox. „Nachdem wir so lange getrennt waren, war das Letzte, worüber ich mir Sorgen machte, wie breit meine Hüften geworden waren. Ich war einfach aufgeregt, sie wiedersehen zu können. Wenn du anfängst, dich auf Dinge zu konzentrieren, die ein bisschen mehr Substanz und Wert haben, kann sich das als hilfreich erweisen.“
Am Ende sagt Dr. Cox, dass es während dieser Zeit, die sich durch Veränderung auszeichnet, wichtig ist, Mitgefühl für sich selbst zu haben. Erinner dich daran, dass du das vergangene Jahr überlebt hast und dass das eine große Leistung ist. „Ob du während COVID zu- oder abgenommen hast, spielt keine Rolle. Du bist genug und liebenswert, so wie du bist“, sagt sie. „Unsere Körper machen nur einen Teil dessen aus, wer wir als Individuen sind. Wir bringen so viel mit – ob das nun unsere Intelligenz oder unsere Fähigkeiten sind. Meine Hoffnung ist, dass sich Menschen nicht nur auf ihr Image konzentrieren. Wir sind so viel mehr als das, was wir im Spiegel sehen, und das ist etwas, worüber wir nachdenken sollten, wenn wir nach der Pandemie wieder zu unserem normalen Leben zurückkehren.“
Wenn du selbst an einer Essstörung leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe braucht, kannst du dich beispielsweise per Email, Chat, Video-Beratung oder Telefon an das ANAD e.V. Versorgungszentrum Essstörungen wenden.

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