„Das Coronavirus tötet nur alte Menschen und die werden sowieso sterben.“ Das hat vor einigen Wochen eine 27-Jährige zu mir gesagt. Sie gehört zu denjenigen, die glauben, weil sie jung sind, kann ihnen das Virus nichts anhaben.
Nur drei Wochen später hat das Coronavirus unser Leben komplett auf den Kopf gestellt. Und während wir einerseits so viel es geht Zuhause bleiben sollen, werden andererseits Stimmen aus der Politik und in der Gesellschaft lauter, einen Exit-Plan vorzubereiten, damit unsere Wirtschaft durch das Virus nicht komplett einbricht. In solchen Momenten muss ich an meine verstorbene Mutter denken. Warum? Weil sie vor ihrem Tod Opfer von Vernachlässigung und Misshandlung geworden ist – und meiner Meinung nach, gehen die Gedanken vieler über die Lage und unsere älteren Mitbürger*innen auch in diese Richtung.
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Meine Mutter war eine psychisch kranke und verwitwete Immigrantin aus Indien. Als sie im Alter von 69 Jahren starb, war meine Beziehung zu ihr sehr angespannt. Wegen ihrer Krankheit war meine Kindheit ziemlich chaotisch. Meine Mutter war unberechenbar und manchmal sogar gewalttätig. Und sie hörte Stimmen. Welche Krankheit sie hatte, weiß ich nicht, denn sie verweigerte jede Art von Hilfe – als sie älter und verletzlicher wurde, führte diese Haltung letztendlich zu ihrem Tod.
Mit Ende 60 lebte meine Mutter bei meiner Tante in der indischen Stadt Kalkutta. Immer wenn ich nach meiner Mutter fragte, sagte meine Tante, es geht ihr gut und sie kümmert sich um sie. Doch die Wahrheit sah anders aus: Meine Tante gab meiner Mutter Beruhigungsmittel und behauptete später, dass sie damit ihre psychischen Probleme lindern wollte. Die Beruhigungsmittel ließen meine Mutter stundenlang schlafen. Anscheinend wurde bei ihr auch Parkinson diagnostiziert und die Schlaftabletten machten ihre Knochen brüchiger. Mit dem Geld, das meine Tante von den Bankkonten meiner Mutter abhob, machte sie Wochenendtrips und ließ meine Mutter einfach allein in ihrem eigenen Urin und Kot schlafen. Als ich sie fand, war sie quasi schon tot. Sie konnte kaum atmen und hatte sich wundgelegen; die Stelle war so groß wie ein Essteller und hatte sich tief in ihren Körper gerissen, sodass ich Teile ihrer ausgetrockneten Wirbelsäule sehen konnte. Meine Mutter starb am 16. März 2016.
Ihre Geschichte ist ein sehr extremes Beispiel für Misshandlungen, denen alte Menschen zum Opfer fallen. Ich habe leider zu spät von ihren Umständen erfahren, um etwas unternehmen zu können; manchmal frage ich mich, ob ich genauso Schuld an ihrem Tod habe wie meine Tante.
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Ich weiß, dass es noch viel mehr alte Menschen gibt, die gerade ihrem eigenen Schicksal überlassen werden. Das war schon vor dem Virus so. Wir haben gern ignoriert, dass eine ganze Generation Opfer von Misshandlung und Vernachlässigung ist. Denn das ist einfacher, als es zu unserem Problem zu machen. Wir setzen die Alten einfach in einem Pflegeheim ab – weit weg von unserem Alltag – dann müssen wir uns auch nicht um sie kümmern.
Wir befinden uns mitten in einer globalen Pandemie und sind mit einer Krankheit konfrontiert, die unverhältnismäßig viele Menschen über 65 Jahre tötet. Und auch wenn viele von uns vorbildlich zuhause bleiben, haben einige immer noch nicht kapiert (oder wollen nicht kapieren), dass sie mit ihren Partys und Gruppentreffen in Parks unsere ältere Bevölkerung gefährden. Sie wollen sich nicht isolieren, denn es ist ihnen egal, wenn ein paar alte Leute sterben. Das ist Misshandlung und Vernachlässigung der Älteren. Ich sehe das an den Kommentaren unter den Statistiken über neue Todesopfer-Zahlen. Die Menschen haben Angst vor dem Tod. Und alte Menschen erinnern uns daran, dass wir alle irgendwann sterben werden. Vielleicht reagieren junge Leute aus der Angst heraus so ignorant. Vielleicht ist es diese Angst, die sie in Restaurants und Bars getrieben hat. Vielleicht ist sie der Grund, warum wir alles schließen mussten und Kontaktbeschränkungen eingeführt wurden. Aber wir können uns nicht von Angst leiten lassen; nicht, wenn so viele Leben auf dem Spiel stehen.
Und am Beispiel von Italien wissen wir, was passieren wird, wenn unsere Krankenhäuser keine Kapazitäten mehr haben sollten: Ärzt*innen werden entscheiden müssen, wen sie am Leben erhalten und wer seinem oder ihrem Schicksal überlassen wird. Und sie werden lieber das Leben der Jungen retten. Meine Gedanken sind bei den älteren Menschen in Heimen, die so schutzlos sind wie Kinder. Menschen mit Demenz, die gar nicht wirklich verstehen, was um sie herum geschieht. Ich erinnere mich an meine psychisch kranke Mutter, die vielleicht noch leben würde, wenn meine Tante sich um sie gekümmert hätte. Ich frage mich, was meine Mutter dachte und fühlte, als sie allein im Sterben lag. Wegen der Kontaktbeschränkungen können viele ihre Eltern und Großeltern nicht mehr besuchen – und gerade sie sind oft allein und einsam.
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In Deutschland ist die Zahl der Todesopfer auf über 1000 gestiegen (Stand 3. April). Und erst so langsam wird allen klar, dass jede*r daran erkranken und an den Folgen sterben kann. Nichtsdestotrotz bleiben in den Statistiken die Alten und Menschen mit Vorerkrankungen im Fokus. Und natürlich sollten wir alle froh darüber sein, dass Kinder selten betroffen sind, aber wir dürfen nicht vergessen, dass einige von ihnen bald ohne Großeltern aufwachsen müssen.
Doch auch wenn das Virus uns gerade mehr denn je deutlich macht, wie schlecht wir mit der richtigen Fürsorge für Ältere in unserer Gesellschaft steht, wissen wir eigentlich alle, Vernachlässigung und Misshandlung von Senior*innen waren schon vor der Pandemie ein Problem. Die Weltgesundheitsorganisation geht zum Beispiel davon aus, 15,7 Prozent der Menschen über 65 Jahren werden Opfer von Misshandlung.
Ich frage mich, inwieweit die Art, wie wir mit dem Coronavirus umgehen, die Statistik des WHO beeinflussen wird. Ist es nicht schon eine Art von sprachlicher Gewalt, wenn immer wieder gesagt wird, “nur“ alte Menschen sterben daran? Sind wir nicht Mittäter*innen, wenn wir auf Social Media solche Statistiken teilen? Sind die Leben der älteren Bevölkerung denn weniger Wert als unsere?
Wir sollten nicht vergessen, dass wir hoffentlich alleirgendwann einmal in das Alter derer kommen werden, die wir gerade sounmenschlich behandeln. Und wir werden eine neue Generation aufziehen, die vonuns gelernt hat, sich nicht um alte Menschen zu kümmern.
Hilfreiche Tipps sowie tagesaktuelle Informationen zum Thema Coronavirus findest du auf der Seite des Bundesministeriums für Gesundheit. Solltest du Angst haben, möglicherweise selbst betroffen zu sein, kannst du dich unter 116117 an den ärztlichen Bereitschaftsdienst wenden. Gehörlose und Hörgeschädigte können eine Mail an info.gehoerlos@bmg.bund.de schicken oder das Gebärdentelefon (Videotelefonie) via https://www.gebaerdentelefon.de/bmg/ verwenden.