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Warum meine Angststörung schlimmer wurde, als ich zu meinem Freund zog

Photo by Brina Blum.
Vor drei Jahren zog ich mit meinem Freund zusammen. Wir machten kein großes Ding draus, denn wir waren schon seit sechs Jahren zusammen. Sein Mitbewohner zog aus, also war es der nächste logische Schritt.
Es war wundervoll. Wir ignorierten den Schimmel einfach und machten es uns hübsch in unserer kleinen Wohnung. In den ersten drei Monaten zankten wir uns zwar relativ häufig, aber das geht vielen Paaren so – man muss sich ja erst mal aufeinander einstellen. Wir lernten die kleinen Macken und Angewohnheiten des anderen kennen, lebten uns langsam, aber sicher ein und genossen unser häusliches Glück. Wir adoptierten sogar einen alten, senilen, manchmal nervigen Kater. Wir liebten ihn (und uns) sehr.
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Ich hatte mir seit Jahren nichts mehr gewünscht als meinen eigenen kleinen Rückzugsort. Meinen Safe Space. Einen Ort, an dem ich mich am Ende des Tages verstecken kann. Doch auch, wenn es eine Weile gedauert hat, ist mir irgendwann klargeworden, dass zu viel Sicherheit manchmal gar nicht so gut ist.
Unsere gemeinsame Wohnung ist meine mentale Oase. Versteh mich nicht falsch: Mit einem fancy eingerichteten Luxus-Spa hat das definitiv nichts zu tun, aber ich fühle mich sehr wohl in unserem Appartement. Hier habe ich alles unter Kontrolle. Und wie jede*r, die*der unter Ängsten leidet weiß: Es geht in 90 Prozent aller Situationen darum, die Kontrolle behalten zu wollen.

Ich hatte mir seit Jahren nichts mehr gewünscht als meinen eigenen kleinen Rückzugsort. Mein Safe Space. Doch auch, wenn es hat eine Weile gedauert, ist mir irgendwann klargeworden, dass zu viel Sicherheit manchmal gar nicht so gut ist.

Unsere Wohnung ist eine kleine, überschaubare Welt, in der ich alles selbst steuern kann. Wenn ich keine Lust habe, irgendjemanden zu sehen, dann ist das halt so. Wenn ich alle Pflichten ignorieren und stattdessen lieber drei Stunden netflixen will, hindert mich niemand daran. „Hör auf dich selbst und mach das, was dir guttut”, sage ich zu mir und krümle dabei mein olles T-Shirt mit Chips voll. In unseren vier Wänden passiert nichts, ohne mein Wissen. Entweder wir haben geputzt – dann ist es sauber – oder wir haben nicht geputzt – dann ist es dreckig. So einfach ist das.
Ich habe zehn Jahre lang in einer WG gelebt. Manchmal wohnten irgendwelche Zwischenmieter bei uns und mit manchen war das Zusammenleben ein absoluter Albtraum. Aber die meisten meiner mehr als 30 Mitbewohner*innen waren oder wurden echte Freunde. Ich hatte also mehr Glück als viele andere, die in WGs leben. Für meinen Kopf war das alles aber ziemlich anstrengend: In einem Haushalt mit fünf oder mehr (je nachdem wie viele Freunde von Freunden sich gerade im Wohnzimmer einquartiert hatten) hatte ich keine Chance, alles zu kontrollieren.
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‚Wenn ich jetzt ins Wohnzimmer gehe, weil ich ganz gemütlich eine Rom-Com schauen will, liegt dann schon jemand auf dem Sofa? Keine Ahnung. In welchem Zustand wird die Küche sein, wenn ich nach Hause komme und nach einem anstrengenden Tag in Ruhe kochen und essen will? Unmöglich vorauszusagen. Kann ich heute endlich mal zeitig schlafen gehen oder stolpert mein Mitbewohner mal wieder 23 Uhr mit einem Sixpack in der Hand und drei Fremden, die er in der Bar kennengelernt hat, zur Wohnungstür rein?‘
Um es kurz zu machen: Ich lebte im (mehr oder weniger) organisierten Chaos und hatte keine andere Wahl, als mich damit abzufinden. Im Nachhinein würde ich sagen, dass ich genau deswegen richtig aufblühte. Meine Komfortzone hatte ich längst verlassen und an die letzte „Me-Time” konnte ich mich kaum erinnern. Ich musste mich praktisch pausenlos meinen Ängsten stellen. Weil ich dachte, ich bräuchte genau das Gegenteil – einen ruhigen Ort – zog ich mit meinem Freund zusammen. Doch dann ging es mit meiner mentalen Gesundheit rapide bergab.
Wenn ich in den letzten Jahren etwas über meine Angststörung gelernt habe, dann, dass ich „die beste Version meines Lebens” nur dann leben kann, wenn ich das Gegenteil von dem mache, was ich am liebsten machen würde. Heißt im Klartext: Ich muss ab und zu die Kontrolle abgeben und einfach loslassen. Es gibt Abende, an denen ich keinen Bock habe, auszugehen. Doch wenn ich mich überwinde und es trotzdem mache, wird es immer richtig cool. Ich habe noch nie im Nachhinein gedacht: Ach, wäre ich mal zu Hause auf dem Sofa geblieben und hätte genetflixt, statt mich mit Freunden zu treffen.
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Es ist unglaublich wichtig für mich, meine Ängste zu konfrontieren und danach fühle ich mich einfach fantastisch.

Es ist unglaublich wichtig für mich, meine Ängste zu konfrontieren und danach fühle ich mich einfach fantastisch. Und genau deswegen hat mich meine kleine Wohlfühlwohnung auch komplett aus dem Konzept gebracht. Hier kann ich mich nämlich sehr gut vor meinen Ängsten verstecken. Aber das ist meine persönliche Erfahrung. Bei dir kann das natürlich ganz anders sein. Wenn du von Natur aus introvertiert bist und nur in deiner eigenen Wohnung wirklich happy bist, ist das halt so. Oder vielleicht bist du auch einfach noch nicht an dem Punkt, dich aktiv mit deinen Ängsten auseinanderzusetzen. Doch wenn es irgendwie geht, rate ich dir, dich deinen Herausforderungen zu stellen, denn nur so kann deine seelische Gesundheit besser werden – und bleiben.
Auch, wenn meine neue Wohnsituation am Anfang für mich nicht ganz leicht war, komme ich jetzt gut klar. Zwar sagt mir mein Kopf an manchen Freitagen immer noch manchmal: „Mach es dir doch einfach bis Montagfrüh auf der Couch gemütlich”, aber ich weiß, dass es mir danach richtig scheiße gehen würde. Deshalb vergeht kein Wochenende, an dem ich mich nicht mit irgendjemandem treffe oder irgendetwas unternehme. Sportkurse an einem Samstag- oder Sonntagvormittag sind immer eine gute Idee. Genauso wie nach der Arbeit nicht direkt Heim zu gehen – denn, wenn ich einmal zu Hause bin, ist es umso schwerer, die Wohnung noch mal zu verlassen. Also mache ich Besorgungen, gehe joggen oder treffe mich mit Freunden. Und ich habe noch einen kleinen Trick in petto: Mir hilft es, wenn ich so oft es geht Freunde zur Pyjamaparty einlade und so tue, als würden wir noch zusammenwohnen.
So lange ich mich an diese Regeln halte, geht es mir gut. Aber wie gesagt: Das sind meine persönlichen Erfahrungen. Wie das bei dir aussieht, weiß ich leider nicht. Also nimm dir Zeit, herauszufinden, was dir guttut. Und vergiss dabei nicht: Vielleicht hilft dir genau das, worauf du am wenigsten Lust hast. Wenn du einmal weißt, was deine Hilfsmittel sind, dann versuch sie so oft es geht anzuwenden. Mir geht es besser, wenn ich die Kontrolle abgebe und unter Menschen gehe. In diesem Sinne: Bye-bye, ich bin dann mal mit Freunden im Park.

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