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„Mama, wieso steht da ein Panzer vor unserem Haus?“ – G20 als Belastungsprobe

Foto: Manuel Puchta.
Der G20-Gipfel war in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmesituation – vor allem für uns Hamburger. Die Bilder brennender Autos, geplünderter Geschäfte und in Flammen stehenden Barrikaden gingen um die Welt und hinterlassen nicht nur uns Einwohner sprachlos und schockiert. Ein ganzes Potpourri diverser Ereignisse reihte sich aneinander und ergab ein surreales Bild von sinnloser Zerstörung, Krawall, endlosen Polizeikolonnen, ein Mash-up aus Beethoven in der Elbphilharmonie und den Toten Hosen auf der Straße.
Obwohl das G20-Wochenende für mich persönlich vor allem von friedlichen Demonstrationen und kreativen Anti-G20-Protesten geprägt war, werde ich wohl noch Wochen brauchen, um alles zu verarbeiten. Aber so geht es nicht nur mir: Es ist, als hätte ganz Hamburg einen kollektiven Kater, ein Gipfeltrauma, aus dem die Stadt erst langsam wieder erwacht.
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Seit Monaten beschäftigt uns Hanseaten nichts so sehr wie der G20-Gipfel. Eine undefinierbare Unsicherheit und Furcht vor dem, was da wohl so kommen mag, machte sich breit und schwebte unheilvoll über dem zweiten Juli-Wochenende. Krawalle waren absehbar, dass es zu weitläufigen Straßensperrungen kommt auch, aber was tatsächlich während der vergangenen Tage passieren sollte, war schwer vorstellbar. Ich wohne mit meinem Sohn zentral oberhalb der Landungsbrücken in der Hamburger Neustadt. Aber in Hamburg wohnt eigentlich fast jeder „zentral“, das heißt, alle umliegenden Orte sind innerhalb von 10 Minuten mit dem Rad zu erreichen – der Hauptbahnhof, die Schanze, Altona, der Hafen. Als Innenstädter sind wir Großveranstaltungen gewöhnt. Vor allem das massive Polizeiaufgebot hat unsere Stadt schon in den vergangenen Monaten geprägt: Es wurden nicht nur auf sämtlichen Zufahrtsstraßen schon seit geraumer Zeit endlose Polizei-Eskorten geprobt, nein, auch in der Luft und auf der Elbe wurden immer wieder Manöver exerziert. Ein Gipfeltreffen dieser Größenordnung in einer solchen Millionenstadt abzuhalten war keine gute Idee, das war den meisten Hamburgern schon vorher klar, auch wenn unser Bürgermeister da anderer Meinung war. Er hatte sich wohl erhofft, den Namen der Hansestadt in die Welt hinauszutragen – das ist ihm auch gelungen, allerdings sehr anders, als er sich das vorgestellt hat.

Autonome Gewalttäter, pseudorevolutionäre Action-Touristen & Beethovens 9te Sinfonie

Dabei fing alles ganz harmlos an: Der Donnerstag, der Anreisetag der Gipfelteilnehmer und ihrer Delegationen, begann mit einer seltsamen Stille – die Redewendung „die Ruhe vor dem Sturm“ bekommt auf einmal eine ganz neue Bedeutung für Hamburg post-G20. Große Bereiche rund um die Innenstadt und die Zufahrtswege vom Flughafen waren gesperrt, das Dauerrauschen der üblichen Autokolonnen auf den Straßen wich einem seltsam dumpfen Geräusch entfernter Polizeisirenen. Auf der achtspurigen Straße, die ich von meinem Balkon aus sehen kann, fuhr stundenlang kein einziges Fahrzeug, man hätte problemlos Fußball spielen können. Die meisten meiner Freunde haben die Gipfeltage zum Anlass genommen, mit Kind, Katze und Maus die Stadt zu verlassen und das hat man am Donnerstag gemerkt. Ein bisschen wie das Ende der Welt, ein bisschen wie autofreier Sonntag. Leider gibt es keine offiziellen Zahlen, aber wenn ich mich umhöre, hat sicherlich über die Hälfte der Innenstadt-Hamburger während des Gipfels das Weite gesucht. Die Stille auf den Straßen wurde lediglich durch das konstante Geknatter gleich mehrerer Helikopter über dem gesamten Stadtgebiet unterbrochen. Und da das Nachtflugverbot aufgehoben wurde, kamen wir auch bis spät abends in den Genuss des Heli-Surround-Soundtracks.
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Menschen waren mehrere Stunden in ihren Autos gefangen, weil es weder vor noch zurück ging. Lieferanten verzweifelten, weil sie ihre Waren nicht ausliefern konnten. Ich las von spontanen Picknicken am Straßenrand, von Anwohnern, die eingeschlossenen Autofahrern Wasser und Kaffee reichten oder von Fahrern, die sich die Wartezeit mit dem Einkaufen der Wochenendeinkäufe verkürzten, während sie im völligen Stillstand auf der Fahrbahn standen. Natürlich wusste man, dass es zu erheblichen Behinderungen kommen wird, nur hatte niemand ahnen können, dass es schier unmöglich sein wird, während des gesamten Gipfels überhaupt irgendwohin zu gelangen. Wir sprechen hier von drei Tagen. Drei Tage im Ausnahmezustand. Sogar für mich als Radfahrerin sollte es schwierig werden, von A nach B zu gelangen. Wenn Donald Trump mit seiner 72 Fahrzeuge umfassenden Kolonne von gepanzerten Fahrzeugen, Polizeiautos und Begleitfahrzeugen durch die Stadt donnert, heißt es für alle anderen Verkehrsteilnehmer eben erstmal warten. Hunderte solcher Kolonnen bahnten sich in den nächsten Tagen ihren Weg durch Hamburg vom Flughafen zu den Hotels in der Innenstadt, von den Hotels zur Messe, von der Messe in die Elbphilharmonie und wieder zurück.
Am Freitagabend, während die Gipfelteilnehmer in der Elbphilharmonie Beethovens „Ode an die Freude“ lauschten und zeitgleich autonome Gewalttäter und pseudorevolutionäre Action-Touristen die Schanze auseinandernahmen, brauchte ich vier Anläufe, um vom Hauptbahnhof zurück zu meiner Wohnung außerhalb des eigentlichen Gefahrengebietes zu gelangen. Wasserwerfer und Polizeiketten kontrollierten jede noch so kleine Straße. Dabei war es ihnen herzlich egal, ob Anwohner oder Besucher, passieren durfte bei drei Straßensperren überhaupt niemand. Erst bei der vierten mit Räumpanzern gesperrten Seitenstraße wurde ich mit zwei weiteren Anwohnern nach Ausweiskontrolle von einem Polizisten in Kampfmontur über die einsame Straße geleitet. Ein unwirkliches Gefühl. Straßen, die ich schon hundertmal entlang gegangen bin, sahen auf einmal aus, wie Szenen aus einem bevorstehenden Bürgerkrieg. Es wäre natürlich schön gewesen, als Anwohner vorab über solche Komplettsperrungen informiert zu werden. Der Hamburger Senat hat sich keinen Gefallen getan, seinen Einwohnern all das zuzumuten.
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„Mama, wieso steht da ein Panzer vor unserem Haus?“

Als alleinerziehende Mutter war der Gipfel vor allem eine große Belastungsprobe. Die Grundschule meines Sohnes liegt rund 700 Meter vom G20-Austragungsort im Hamburger Messezentrum entfernt und durfte aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann, offiziell nicht schließen. Allerdings wurde die Schulpflicht für beide Tage behördlich aufgehoben, so mussten die Kinder nicht am Unterricht teilnehmen, was mein Sohn natürlich spitze fand. Auch wenn viele Hamburger die Gelegenheit für ein verlängertes Wochenende genutzt haben, fand ich es nicht ganz so spitze, so kurzfristig für zwei komplette Tage eine alternative Betreuung für meinen Sohn finden zu müssen. Natürlich eine, die möglichst außerhalb des Innenstadtkorridors war – an dieser Stelle danke an Wiebke, die meinen Sohn während dieser Zeit betreut hat, damit ich arbeiten kann. Ich frage mich ehrlich, wie sich der Hamburger Bürgermeister den Gipfel vorgestellt hat, wie Kinder und Erwachsene ohne funktionierenden Nahverkehr, dafür mit reichlich Hochsicherheitszonen und Straßensperrungen sicher ans Ziel kommen sollten.
Foto: Melodie Michelberger.
Das Polizeiaufgebot im Voraus ist natürlich auch meinem Sohn nicht entgangen: „Mama, die Polizeiautos parken ja auf dem Gehweg!“, rief er eines Nachmittags verwundert auf dem Heimweg. Der Schulweg wurde zur Polizeifahrzeugschau oder wie mein Sohn sagte, zur „Polizeiautoparade“. Immerhin bin ich jetzt über sämtliche Fahrzeuge der Polizei bestens informiert, kann den Unterschied zwischen Wasserwerfer und Feuerwehrauto einwandfrei erklären und kenne auch die unterschiedlichen Polizei-Uniformen der anderen Bundesländer. Wie erklärt man einem Neunjährigen, was in seiner Stadt vorgeht? Wie erklärt man ihm den Unterscheid zwischen Demokratie und Autokratie, Schwarzem Block und Greenpeace? Wir führten unzählige Gespräche über den Sinn und Unsinn politischer Entscheidungen, Kriege und Weltbilder ausländischer Regierungschefs. Mein Sohn fühlte sich von der Masse der Einsatzkräfte in erster Linie eingeschüchtert, zeitweise bedroht. Er sagte, er fühle sich, als würde bald ein Krieg beginnen. Das Gefühl von Sicherheit, das ihm das massive Polizeiaufgebot theoretisch geben sollte, schlug in Nervosität um. Und in viele Fragen: „Mama, wieso steht da ein Panzer vor unserem Haus?“
Doch während eine kleine Anzahl von Chaoten in einigen Teilen der Stadt die Utopien einer friedlichen und gerechten Welt kurz und klein schlugen, gab es vor allem friedliche Proteste gegen die Politik der G20. Es ist schade, dass die spektakulären Fotos der sinnlosen Gewaltexzesse die Medien bis heute dominieren, denn über 100.000 Menschen beteiligten sich friedlich und kreativ an unterschiedlichen Demonstrationen vor und während des Gipfels. Die schönste Art gegen Ungerechtigkeiten, Ausbeutung und Umweltzerstörung zu protestieren, war für mich der Demo-Nachtrave „Lieber Tanz Ich Als G20!“ – am Ende tanzen 35.000 Menschen fröhlich und laut durch St. Pauli und die Schanze, haben den Absoluten Beginnern zugejubelt und bunte Konfettikanonen in den Nachthimmel geschossen. Was Hamburg wirklich gut getan hat, waren die Massen an Gipfelgegnern und Aktivisten, die aus der ganzen Welt angereist kamen. Und das werde ich vermissen: das Gefühl, mit vielen verschiedenen Menschen gemeinsam für eine bessere Welt zu kämpfen.

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