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Wie die gefährliche „Blackpill-Bewegung“ junge Männer radikalisiert

Foto: Poppy Thorpe.
Am 12. August 2021 erschoss der 22-jährige Jake Davison im britischen Plymouth seine 51-jährige Mutter Maxine und verließ danach mit seiner Schrotflinte das Haus. Kurz nach 18 Uhr wurde die Polizei zu einem „ernsten Schusswaffen-Vorfall“ gerufen. Es dauerte sechs Minuten, bis die Beamt:innen eintrafen – doch bis dahin hatte Davison, ein Kranführer-Azubi, schon ein dreijähriges Mädchen namens Sophie Martyn und ihren 43-jährigen Vater erschossen. Daraufhin rannte er weiter die Straße runter, schoss zwei Anwohner:innen an und tötete zwei weitere Menschen, bevor er die Waffe gegen sich selbst richtete. Es war die schlimmste Schießerei, die Großbritannien seit 2010 erlebt hatte, als der Taxifahrer Derrick Bird in Cumbria zwölf Leute tötete. 
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Davison hatte eine Schusswaffenlizenz; er durfte die Schrotflinte besitzen, mit der er diese Morde beging. Seine Tat wird nicht als terroristisch oder extremistisch eingestuft – doch sollten wir uns mal fragen, wieso eigentlich. Schließlich hat Davison vieles gemein mit dem Massenmörder Elliot Rodger, der 2014 im Alter von 22 Jahren in Kalifornien mit einem Messer und einer Schusswaffe sechs Menschen tötete und 14 weitere verletzte, bevor er sich selbst das Leben nahm. 
Rodger war ein selbsternannter „Incel“ (kurz für „involuntary celibate“, z. Dt. „unfreiwillig sexuell enthaltsam“). Bevor er starb, stellte er ein rassistisches, frauenfeindliches „Manifest“ ins Netz, ergänzt durch ein YouTube-Video, in dem er seinen Hass für Frauen erklärte und behauptete, er habe „keine andere Wahl, als sich an der Gesellschaft zu rächen“, die ihm Sex und Liebe verweigert habe.
In den darauffolgenden Jahren kam es zu einer Reihe ähnlicher Attacken, während Rodger zu einer Art Galionsfigur für die Incel-Bewegung wurde. 2018 tötete ein weiterer Incel namens Alek Minassian in Toronto, Kanada, zehn Passant:innen, die er mit seinem Van überfuhr. Vor seiner Tat hatte er seine Bewunderung für Rodger kundgetan. 2019 tötete dann Brenton Tarrant 51 Menschen in zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch. Auch er hatte zuvor ein sogenanntes „Manifest“ voller Frauen-, Fremdenhass und Rassismus veröffentlicht. Und erst vor wenigen Monaten wurde der 21-jährige Tres Genco, ein selbsternannter Incel aus Ohio, USA, der Planung einer Massenschießerei beschuldigt, mit der er es auf Frauen in Uni-Schwesternschaften abgesehen hatte. Und auch in Deutschland ist die Incel-Ideologie angekommen: Die Attentäter von Halle und Hanau hatten Verbindungen in die Szene. 
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Die Incel-Ideologie ist eine Weltanschauung, in der Frauen als Objekte betrachtet werden und in der extreme Gewalt gegen sie gerechtfertigt wird.

Callum Hood
In den Wochen vor dem Angriff in Plymouth erwähnte Davison immer wieder toxische, misogyne Internet-Ideologien, die zur sogenannten „Blackpill-Bewegung“ zählen. Die ist mit der frauenfeindlichen „Red-Pill-Bewegung“ verwandt, die ihren Namen aus einer Szene in Matrix (1999) hat, in der Keanu Reeves’ Charakter Neo eine Entscheidung treffen muss: „Nimm die blaue Pille: Die Geschichte endet, du wachst in deinem Bett auf und glaubst, was du auch immer glauben willst. Nimm die rote Pille: Du bleibst hier im Wunderland und ich werde dir zeigen, wie tief das Kaninchenloch reicht.“
Dieses „Red Pill“-Kaninchenloch ist für Incels die Einsicht, dass Frauen über alles das Sagen haben, diese Verantwortung aber nicht wahrnehmen. In diesem System werden Männer – die „Opfer“ – durch die Frauen diskriminiert und dürfen sich nie dagegen äußern. Diese Weltanschauung wird auf diversen Websites und YouTube-Kanälen vertreten, die zusammen ein Online-Netzwerk namens „manosphere“ („Mannosphäre“) ausmachen. Dort ist auch Blackpill vertreten; von Akademiker:innen wird die Bewegung in einer neuen Studie im Journal Men and Masculinities als die fatalistische, nihilistische Einstellung definiert, alles sei „vorbei“, weil „unterlegene“ Männer ohnehin keine Chance auf eine sexuelle Beziehung zu Frauen hätten. „Die Incel-Ideologie“, erklärt Callum Hood vom britischen Centre for Countering Digital Hate (CCDH), „ist eine Weltanschauung, in der Frauen als Objekte betrachtet werden und in der extreme Gewalt gegen sie gerechtfertigt wird.“ 
Davison selbst hatte den YouTube-Kanal Incel TV abonniert und in den Wochen vor der Schießerei Videos hochgeladen, in denen er davon sprach, die „Black-Pill-Überdosis“ zu „konsumieren“. Außerdem postete er Videos von sich selbst beim Gewichtheben und erzählte von seiner Frustration darüber, Jungfrau zu sein. Regelmäßig schrieb er außerdem über seine Begeisterung für Waffen – vor allem für Modelle, deren Besitz in den USA, nicht aber in Großbritannien erlaubt waren, weswegen er sich gewünscht habe, in die USA oder nach Kanada zu ziehen. 
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Die Incel-Ideologie ist keine Nischen-Community und beschränkt sich auch nicht bloß auf Online-Foren; dieser Hass schwappt oft in die Offline-Welt über.

Das Team vom CCDH durchsuchte nach Davisons Taten seine Onlinepräsenz auf Reddit und anderen Plattformen und fand heraus, wie tief er tatsächlich in der Incel-Bewegung verwurzelt war. In einem Chatverlauf bezeichnete sich Davison selbst als Incel; in einem Post schrieb er angeblich einem 16-jährigen Mädchen, Frauen seien „arrogant und überprivilegiert“, weil sie „nie verlieren“ könnten. In einem anderen Post beklagte er sich über die Schäden, die die Blackpill-Ideologie seiner geistigen Gesundheit zugefügt habe: „Ich wünschte mir, ich hätte diesen ganzen Bullshit nie erfahren, [das ist] bloß toxischer, negativer Bullshit… Dabei kriegst du das Gefühl, keine Selbstverbesserung würde je ausreichen. Geht das noch jemandem so?“
Die Incel-Ideologie ist keine Nischen-Community und beschränkt sich auch nicht bloß auf Online-Foren. Wie die oben erwähnte finstere Chronik der Angriffe zeigt, schwappt dieser Hass oft in die Offline-Welt über. Inzwischen ist daraus eine organisierte politische Bewegung geworden, die schon zahlreiche junge Männer radikalisiert hat. Dennoch wird die Incel-Kultur immer noch nicht als der Extremismus erkannt, der sie ist – und das muss sich dringend ändern.

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