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Wie ich nach meiner Essstörung meinen Style neu entdeckte

Foto: freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Alice Doleman.
Warnung: In diesem Artikel geht es unter anderem um Essstörungen, was für manche Leser:innen möglicherweise triggernd sein kann.
Wenn ich mir heute meinen Kleiderschrank so ansehe, empfinde ich Stolz. Das tue ich nicht, weil er vollgepackt mit Vintage-Designer-Sachen ist – schön wär's –, sondern weil ich auf jedem Kleiderbügel etwas sehe, für das ich als 20-Jährige nie selbstbewusst genug gewesen wäre: ein leuchtend blaues Minikleid hier, ein hautenger Samt-Jumpsuit dort; ein Mesh-Kleid, das mich an einen Sonnenuntergang erinnert, und ein pastellgrüner Anzug, den ich mit einem Spitzen-Bralette darunter tragen werde und sonst nichts 😉.
Meine Freund:innen und mein Freund lachen darüber, wie viel Zeit ich damit verbringe, auf der Second-Hand-Shopping-App Depop nach „seltsamen“ (ihre Beschreibung, nicht meine) Kleidungsstücken zu stöbern, die niemals zu irgendetwas in meiner ohnehin schon bunten Garderobe passen würden. Dafür gibt es aber einen ernsteren Grund: Meine späten Teenagerjahre und der Beginn meiner frühen 20er zeichneten sich dadurch aus, dass ich die Anzeichen meiner Essstörung hinter unförmiger Baggy-Kleidung zu verstecken versuchte. Damals wollte ich mich so unauffällig wie möglich kleiden. Deshalb trug ich Oversize-Teile, durch die ich mich vor unerwünschter Aufmerksamkeit schützen konnte. Sechs Jahre nachdem ich mich von meiner Essstörung befreit habe – aber nicht völlig frei von Schwierigkeiten Probleme mit meinem Körperbild bin –, haben sich die Dinge rund ums Thema Kleiderwahl geändert.
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Meine jetzige Garderobe bringt mir Freude und Komfort – eine Ausnahme ist da das ein oder andere Mal vor einer Party, wenn ich mich darüber beklage, dass ich nichts zum Anziehen habe. Wenn du jemals unter einer Essstörung gelitten oder Körperdysmorphie hattest, weißt du bestimmt, was für ein großer Erfolg es ist, dass ich nun Freude an meiner Kleidung habe. Wie ist es mir gelungen, dieses Ziel zu erreichen? Wann wurde ein enger Samt-Overall zu meinem Lieblingsoutfit fürs Büro? Und was noch wichtiger ist: Habe ich daraus, dass ich nach meiner Essstörung meinen Style neu entdeckte, etwas gelernt, das auch für andere nützlich sein könnte? Die Antwort ist ja. Im Folgenden möchte ich deshalb gerne meine Lektionen mit dir teilen.

Einen eigenen Stil zu entwickeln, ist ein Prozess, der sich von Person zu Person unterscheidet

Bevor ich an dieser Stelle weitermache, finde ich es wichtig, zu betonen, dass sich dieser Prozess von Person zu Person unterscheidet. Nur weil du dich in einem Minirock oder einem Tube-Kleid nicht wohlfühlst, heißt das noch lange nicht, dass du etwas falsch machst auf deinem Weg zur Genesung oder dass du nicht selbstbewusst bist. Der Schlüssel, um deinen eigenen Stil zu entwickeln, liegt vielmehr darin, deine Grenzen zu kennen und zu respektieren.
Imogen Ivy, ein Model, zu dem ich aufschaue, weil sie so viel Selbstbewusstsein und Freude durch ihre Kleidung ausstrahlt, erzählt mir, dass die beiden wichtigsten Aspekte ihres Stils Spaß und Komfort sind. „Wenn ich meine Kleidung für den Tag auswähle, frage ich mich Folgendes: ‚Verströmt sie Freude?‘“ sagt Ivy. Bequemlichkeit spielt dabei auch eine große Rolle, da sie keine gute Zeit haben kann, wenn sie sich nicht in ihrem Outfit wohlfühlt.
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Es gibt viele Möglichkeiten, mit dem eigenen Stil zu experimentieren, ohne dabei deine eigenen Grenzen zu missachten, so Amanda Taylor, Gründer:in der Plattform The Unplug Collective. Taylors Erfahrungen mit Essstörungen veranlassten ihn:sie zur Gründung des Forums, das dazu da ist, Menschen mit Essstörungen bei ihrer Genesung zu unterstützen, sich dabei vor allem auf den körperlichen Aspekt konzentriert und die Geschichten Schwarzer Menschen in den Mittelpunkt stellt. Wenn superenge Kleidung nichts für dich ist, dann kannst du dir ja ein Beispiel an „Billie Eilish' modischem Befreiungsakt nehmen“, so Taylor, „und sehr weite Sweatshirts und Jogginghosen tragen“.
Als ihre Essstörung am schlimmsten war, hätte Taylor niemals ein Oversize-Outfit angezogen. „Ich trug immer nur Kleidung, die anliegend war. Ich bin kurvenreich; ich habe eher breitere Hüften, aber eine verhältnismäßig schmale Taille – und es war mir wirklich wichtig, anderen Leuten zu zeigen, dass ich Kurven bin.“
Je mehr Taylor sich damit beschäftigte, desto mehr wurde ihm:ihr klar, dass Perfektionismus und die Meinung anderer einen viel zu gro´´ßen Einfluss auf seinen:ihren Stil hatten. Er:sie kleidete sich nicht für sich selbst. Nachdem er:sie eine Therapie gemacht und nicht mehr länger andere Menschen bei der Kleiderwahl im Hinterkopf haben wollte, entspricht Taylors Stil jetzt ganz seiner:ihrer Vorlieben. „Im Moment gefällt es, mir dass ich Mode dazu einsetzen kann, um mich mal maskulin mal feminin zu präsentieren – je nachdem, wie ich mich an diesem Tag gerade fühle.“
Der Genesungsprozess ermöglicht es, auf eine Art und Weise auf sich selbst zu hören, wie es davor vielleicht nicht möglich war. In Ruthie Friedlanders Fall bedeutete das, damit anzufangen, Mode mit Kinderaugen zu betrachten. Friedlander arbeitete in der Modebranche, als sie sich mit 29 Jahren in Behandlung begab, nachdem sie 20 Jahre lang mit einer Essstörung gekämpft hatte. Ihre eigene Erfahrung inspirierte sie (zusammen mit Christina Grasso) zur Gründung von The Chain, eine Support-Plattform für gleichaltrige Menschen in der Kreativbranche.
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Wenn du Friedlander heute fragst, wer ihr Style-Vorbild ist, nennt sie ihre 5-jährige Nichte. „Ich sehe, wie rein und natürlich ihre modischen Entscheidungen sind“, sagt Friedlander. „Sie trägt einfach, was ihr gefällt. Ich versuche es ihr nachzutun. Und im Zweifelsfall ist etwas rosa Chanel nie fehl am Platz.“

Wie du mit toxischen Schönheitsidealen umgehst

Das Thema Kleidung und die Modebranche selbst können die schlimmsten Feind:innen von Personen mit Essstörung oder solcher, die davon genesen sind. Friedlander sagt, dass sie so gut wie möglich dagegen ankämpft. „Ich arbeite immer noch jeden Tag daran. Ich muss mich ständig an den Unterschied zwischen echt und unecht, gefiltert und ungefiltert erinnern und mich auch daran ständig in Erinnerung bringen, wie sich mein Körper anfühlt und wie er aussieht. All das kann von Tag zu Tag anders sein“, sagt sie.
Ivy und Taylor setzen ähnliche Schritte, um das oft zerstörerische Potenzial von Schönheitsidealen in der Mode-Branche einzuschränken. „In meiner Kindheit als dickes Kind gab es keine size-inclusive Kleidung“, sagt Ivy. „Aber was ich aus dieser Erfahrung mitgenommen habe, ist meine Leidenschaft für Accessoires. Du wirst mich nie ohne eine auffällige Tasche oder eine Sonnenbrille sehen.“
Taylor nützt seine:ihre Kreativität, um mit toxischen Schönheitsidealen umzugehen. Er:sie liebt es, sich sowohl online als auch im wirklichen Leben mit Menschen aller Kleidergrößen zu umgeben, die die spaßige Seite von Mode erkunden, ohne dass dabei der Körper oder Dünnsein im Mittelpunkt steht. Taylor geht es darum, einen Stil zu kreieren, bei dem es um mehr als den Körper geht – von seinen:ihren Tattoos über seine:ihre gebleichten Augenbrauen bis hin zu seinen:ihren gefärbten Haaren.
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Foto: freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Alice Doleman.

Finde eine gesunde Dosis an Inspiration

Ich persönlich bin noch dabei, herauszufinden, was ich in meinen sozialen Netzwerken sehen möchte. Möchte ich Body Positivity? Body Neutrality? Möchte ich einfach gar nicht an Körper erinnert werden? Andererseits haben wir alle einen Körper, also sollten wir auch darüber reden, oder? Diese Fragen spuken mir pausenlos im Kopf herum und meine Antworten darauf ändern sich jeden Tag.
Heute will ich sehen, dass Leute Spaß an Mode haben. Ich will nichts, das perfekt ist. Ich habe so lange damit verbracht, mir Gedanken darüber zu machen, wie mein Körper aus jedem erdenklichen Winkel und auf jedem Bild aussieht, dass ich Menschen zu schätzen gelernt habe, denen es egal ist, was andere über ihre Kleiderwahl denken. Ivy, die halbnackt auf einer Londoner Straße tanzt, ist ein gutes Beispiel dafür. Taylor, der:die über seine:ihre Entscheidung spricht, seinen:ihren Körper entscheiden zu lassen, worin er sich wohlfühlt, ist ein anderes. Niemand sollte das Gefühl haben, perfekt sein zu müssen.
Friedlander teilte mir während unseres Gesprächs eine Sache mit, die mir für immer im Gedächtnis bleiben wird. „Halt nicht an Kleidern fest, die nicht mehr passen“, sagte sie. „Wenn du Dinge aus der Zeit, in der du krank warst, aufbewahrst, ist das so, als ob du deine Essstörung in deinem Kleiderschrank weiterleben lassen würdest.“
Damit hat sie Recht. Selbst wenn du nie Essstörungen hattest, horten so viele von uns ein viel zu enges Paar Jeans von früher mit dem Ziel, sich eines Tages wieder in sie hineinzwängen zu können. Aber um wahre Freiheit in unserem Stil zu finden, müssen wir sie loswerden. Verkauf sie an einen Second-Hand-Laden oder recycle sie. Mach einen modischen Neuanfang und zieh nur mehr das an, was dir gefällt – und zwar wirklich dir.
Wenn du mit einer Essstörung zu kämpfen hast und Unterstützung benötigst, findest du hier professionelle Hilfe.

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