Es ist Samstagmorgen, 9:15 Uhr. Ich sitze in einem Kaffee bei mir um die Ecke und trinke Tee. Mir ist so langweilig, dass ich nach ca. 52 Monaten mal wieder mein LinkedIn checke.
Die Freundin, auf die ich warte, hätte ich eigentlich lieber zu einem ausgedehnten Dinner oder zu ein paar Drinks am Freitag gesehen. Leider hätte sie dafür erst wieder in 7 Wochen Zeit, weshalb ich mich an diesem Samstag ungewohnt früh aus dem Bett gekämpft hatte, um eine Stunde mit ihr zu verbringen. Eine Stunde an einem Samstagmorgen. Ein Zeitfenster, das sonst nur Eltern mit kleinen Kindern kennen, oder Menschen, die ihren Schlafanzug gar nicht erst ausziehen, sondern einfach einen Mantel überstülpen, zum Bäcker laufen und die warmen Brötchen auf direktem Weg wieder mit ins Bett nehmen.
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Ich saß also da, bestellte eins dieser Nata-Puddingteilchen und übte eine strenge Miene, weil sie von unserer einen Stunde schon 20 Minuten zu spät war. „Meine Zeit ist übrigens auch kostbar“, würde ich ihr in ernstem Ton sagen.
Natürlich kam es nie zu irgendeiner Konfrontation. Sie entschuldigte sich, und wirkte dabei auch aufrichtig. Ich war einfach nur froh, sie endlich zu sehen und wollte unsere kostbare Zeit nicht mit meiner Ansage ruinieren.
So ist das nun mal, das Leben mit einer unzuverlässigen Freundin. Mit einer Freundin, die dich eigentlich die meiste Zeit vernachlässigt und dir mit ihrem Verhalten immer wieder klarmacht, dass ihre Zeit viel wertvoller und sie sowieso viel busier ist als du. Meist ist es genau deshalb auch so gut: Sie ist unerreichbar, playing hard to get – oder auf gut Deutsch gesagt: Willst du gelten, mach dich selten. Zieht scheinbar auch in der Freundschaft ganz gut, dieses dumme Spiel.
Und trotzdem bleiben wir genau dieser Freundin jahrelang, manchmal sogar Jahrzehnte, treu. Weil sie uns bei Laune halten, indem sie uns hier und da mal einen Krumen vorwerfen: die eine durchzechte Nacht, über die noch ein Jahr später gesprochen wird. Der gemeinsame Abend nach einer schlimmen Trennung. Das unangebracht teure und tolle Geschenk zum Geburtstag. Es ist immer etwas, das uns ganz eindeutig vor Augen führt, warum wir überhaupt befreundet sind und warum wir eigentlich gerne mehr von ihr sehen würden.
Diese Freundin ist Jessa in Girls, die manchmal unangekündigt wochenlang abtaucht. Es ist Rachel in Friends, die eines Tages verheult im Brautkleid antanzt und ganz selbstverständlich zu Monica zieht, als wäre diese ihr es schuldig. Wahrscheinlich ist es auch Victoria Beckham, die in der WhatsApp-Gruppe der Spice Girls nur auf jede 200. Nachricht antwortet. So stell ich mir das zumindest vor.
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Die Psychologin Dr. Irene S. Levine, meint, dass der Grad der Unzuverlässigkeit in den letzten Jahren enorm angestiegen sei und das habe unter Anderem mit einer veränderten Sicht auf Freundschaften zutun.
„Die Leute werden oberflächlicher, wenn sie tagtäglich ihre Beziehungen mit Verbindungen auf sozialen Plattformen gleichstellen. Man verliert auf Dauer den Bezug zur eigentlichen Person, wenn man die Freundschaft mit einem Touch auf das Display beenden kann“, so Levine. „Wer hatte früher über 300 Freunde? Heute fühlt sich fast jede dieser Verbindungen austauschbar an. Wir verlieren aus den Augen, was es bedeutet, wirklich befreundet zu sein.“
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Auf gut Deutsch gesagt: Willst du gelten, mach dich selten. Zieht scheinbar auch in der Freundschaft ganz gut.
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All die Plattformen, auf denen man mit anderen Menschen verknüpft ist, seien im Prinzip nichts anderes als Tinder auf freundschaftlicher Basis: Dating macht Spaß, Verbindlichkeit dagegen ist eher unerwünscht. Die unzuverlässige Freundin ist das Gegenüber, das sich mysteriös, sexy und sehr wage gibt. Anstatt des aufregenden One-Night-Stands endet die Jahrhundertverabredung mit der Star-Freundin in trunkenen Liebesbekundungen, Schwuren des öfteren Wiedersehens und unverhofften Warmhaltereien zum folgenden Geburts-, Frauen- oder Jahrestag in Form von „diesem Lippenstift, den du immer schon haben wolltest“. Ja, die unzuverlässige Freundin macht es einem nicht leicht.
„Mit Freunden fühlen wir uns wohl. Die Art von Wohlgefühl, wie man es meist nur von der Familie kennt: Man kann sich anzicken, ehrlich sein, zu spät kommen und sich trotzdem sicher sein, dass man geliebt wird“, sagt Levine. „Außerdem enden Freundschaften fast nie so abrupt und definitiv wie romantische Beziehungen, weshalb die Konsequenzen eines Streits auch meist nicht so weitläufig sind. Was am Ende des Tages nichts anderes bedeutet, als dass wir uns bei unseren Freunden schon mal gehen lassen und uns nicht unbedingt von unserer besten Seite zeigen.“
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Ich persönlich würde es bevorzugen, drei Stunden lang auf meine Freundin zu warten und lauwarmen Tee zu trinken, als sie direkt mit meinem Problem zu konfrontieren. Und ich glaube, so geht es vielen Menschen, die so eine Freundin oder einen solchen Freund haben.
Über die Sauberkeit in der Küche streiten wir uns mit unseren Partnern. Vor der Familie lassen wir das trotzige Kind in uns raus. Aber Freunde – Freunde sind doch der glanzvollste Teil unseres Lebens. Mit ihnen haben wir Spaß, gehen durch dick und dünn – und lästern über Partner und Familie. Wer würde sich das vermiesen wollen, anstatt gemeinsam Bellinis zum Frühstück zu trinken? Um es nochmal mit einer Girls-Analogie zu sagen: Die unzuverlässige Freundin ist Jessa. Die Freundin, die sie analysiert und konfrontiert? Marnie. AKA Horror.
Ultimativ ist es nur leider so, dass wir sie konfrontieren müssen. Sonst wird deine Jessa irgendwann denken, ihr Verhalten sei absolut in Ordnung.
„Wenn du das Verhalten einer solchen Person einfach tolerierst, wird es zur Gewohnheit, die nicht einmal Konsequenzen mit sich bringt“, rät Levine. „Von dort an wird es zum Verhaltensmuster, das nicht von alleine aufhört und immer schwieriger zu brechen wird.“
Und während deine unzuverlässige Freundin die Problematik monatelang überhaupt nicht mitkriegt, implodierst du. Du möchtest nicht laut werden, aber auch nicht nichts sagen, fängst an, an dir selbst zu zweifeln, magst dich selbst nicht, wenn du so bist, wirst passiv-aggressiv.
Bereits vor zehn Jahren ergab eine Studie der Annals of Behavioral Medicine, dass „zweideutige, spontane Freundschaften“ zu erhöhtem Blutdruck führen, da sie selbst eine Stressquelle sind, anstatt den Stress, wie andere Freundschaften, auszugleichen.
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„Natürlich hat eine solche Freundschaft auch Vorzüge“, meint Levine. „Jemand, der unzuverlässig, spontan und unverbindlich ist, kann manchmal sehr viel mehr Spaß haben und aufregend sein. Außerdem teilen wir jedem Freund und jeder Freundin meist spezifische Gebiete oder Stärken und Schwächen zu, jede und jeder von ihnen gibt uns etwas anderes. Wohingegen der Partner oder die Partnerin ein stimmiges Gesamtbild abliefern soll.“
„Doch Unzuverlässigkeit wird auch die beste Freundschaft runterziehen“, so Levine. „Es nimmt der Beziehung einfach sehr viel weg.“
Wie du das Problem bewältigst? „Strecken, verdünnen, bis die Freundschaft sich irgendwann auflöst“, sei eine Lösung. Sprich: immer und immer weniger Zeit mit dieser Freundin verbringen, vielleicht nur noch in Gruppen mit anderen treffen, so hat man das obligatorische Wiedersehen abgehakt und kann sich entwöhnen.
Am Ende des Tages, so rät Levine, liegt es jedoch am eigenen Entscheidungswillen. Ich muss entscheiden, was mir eine solche Freundschaft noch wert ist. Ich muss wissen, wie viel Jessa ich im Leben ertrage. Und ich ganz allein muss abwägen, ob es sich lohnt, die Unzuverlässigkeit in Kauf zu nehmen oder ob es mir nicht schon heikel genug ist, nicht zu wissen, ob mein Freund auf dem Heimweg wirklich Zwiebeln mitbringt oder sie mal wieder vergisst.
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