Schaue ich mir die deutschen Charts der letzten fünf Jahre an, finden sich ein paar fragwürdige Titel unter den jeweils am meisten gespielten Songs eines Jahres. Wir hätten da zum Beispiel Robin Thickes Anti-Konsens-Hymne „Blurred Lines“ von 2013 im Angebot. Kleiner Auszug gefällig? „Ich weiß du willst es / Aber du bist ein gutes Mädchen / So wie du mich anfasst / Willst du bestimmt schmutzige Sachen machen.“ Klar, Robin, bedien dich einfach. Wohl eher nicht. Oder wie wäre es mit der guten Meghan Trainor, die sich 2015 in „All About That Bass“ mal schnell selbst zum Objekt macht? „Meine Mutter brachte mir bei, mich nicht um meine Kleidergröße zu sorgen / Sie sagte: ‚Jungs mögen es, wenn sie nachts ein wenig mehr Hintern zum Festhalten haben‘.“ Hauptsache, den Jungs gefällt dein Körper? Na dann ist ja alles in Ordnung.
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Die Sache ist aber die: Egal, ob diese Lieder deinem Musikgeschmack entsprechen oder nicht, man kann schwer leugnen, dass sie eingängige Melodien haben und ihre Beats gute Laune verbreiten. Die meisten werden das Problem kennen. Der Partysong, den du zum Fertigmachen hörst, das Lied auf deiner Work-out-Playlist, das dich zu Höchstleistungen motiviert oder die Trennungsballade, die ebenso herzzerreißend wie devot ist: Wir alle lieben diese Lieder und haben gleichzeitig ein latent schlechtes Gewissen sie zu hören, weil sie mal mehr, mal weniger offen frauenfeindlich sind oder marginalisierte Gruppen angreifen.
Dass ein Großteil der faszinierendsten und beeindruckendsten Künstler*innen unserer Zeit nicht unbedingt die Lieder schreiben, die mit deiner politischen Weltsicht auf einer Linie sind, ist ein offenes Geheimnis. Und ein Großteil der zeitgemäßen Popkultur besteht eben auch aus Provokation. Erinnern wir uns doch kurz an den homophoben Eminem der frühen 2000er, der mit dem Begriff „Faggot“, zu Deutsch „Schwuchtel“, nur so um sich warf, um sich anschließend mit Elton John auf eine Bühne zu stellen. (Und den Begriff auch heute noch verwendet, aber mehr so als Schimpfwort wie Arschloch. Gegen Homosexuelle hat er ja nichts. Und ist auch eh alles nur ironisch gemeint, wie er dem Rolling Stone erzählte. Sehr schwieriges Statement, sehr lahmer Erklärungsversuch.)
Kanye West, der als BPoC ja durchaus auch schon mit rassistischen Anfeindungen konfrontiert worden ist, liefert derart viele fragwürdige öffentliche Auftritte und Statements, dass man manchmal nicht so recht weiß, ob es echt okay ist, sich die Musik von einem solchen Künstler anzuhören. Will man sich wirklich als Fan eines Artists bekennen, der Donald Trump seinen Bruder nennt, Fotos von Make-America-Great-Again-Caps mit der Signatur des US-Präsidenten postet und in seinem Song „New Slaves“ Missbrauchsfantasien auslebt und davon rappt, wie er die Frau eines reichen Firmenbesitzers, der in den Hamptons lebt, vergewaltigen und ihr auf die Kleidung und in den Mund ejakulieren wird? („Fuck you and your Hampton house / I'll fuck your Hampton spouse / Came on her Hampton blouse / And in her Hampton mouth“)? Ja, der Song behandelt den Rassismus in den USA auf sehr eindringliche Art und Weise und ist sicher zu weiten Teilen ein wichtiges Stück Musik. Und dass sich weiße Menschen auf Kosten der schwarzen Minderheit in Amerika jahrhundertelang bereichert haben, um sich riesige Villen leisten zu können, wird niemand bestreiten, der oder die schon mal ein Geschichtsbuch in der Hand hatte. Trotzdem wird in diesem Lied offen und wie selbstverständlich von einer Vergewaltigung als Machtgebärde gesprochen und das verfehlt nicht nur den „Spieß mal umdrehen“-Zweck, sondern ist auch noch zutiefst frauenfeindlich. Ganz abgesehen davon, dass es selbstverständlich eine Straftat darstellt. Und doch ist das Lied, wie so vieles, was Kanye West im Laufe seiner Karriere gemacht hat und ganz abgesehen von den Lyrics des Songs, ein gutes, wagemutiges, kreatives Stück, das frische musikalische Ideen in den Pop-Mainstream gebracht hat.
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Was bedeutet das aber jetzt für uns als junge, aufgeklärte Erwachsene im Jahre 2018? Müssen wir unsere Playlists systematisch aufräumen und jeden Song rausschmeißen, der nicht unserer Weltsicht entspricht? Toller Rhythmus, doofer Text, raus damit? Gute Stimme, verrückter Künstler mit Scheißansichten, leider nein? Oder können wir es uns leisten, wegzuhören? „Sorry, ich kann leider kein Spanisch. Keine Ahnung, was der Typ in ‚Despacito‘ singt, aber cooler Sommerhit.“ Oder gar die Ironiekarte zu spielen? „Die meinen das alle gar nicht so, das ist doch nur ein Witz.“
Muss man denn echt immer jedes Wort auf die Goldwaage legen? Muss man sich selbst geißeln, um um jeden Preis politisch korrekt zu bleiben? Darf man Musik hören, die nicht mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmt, die Frauen objektiviert und alle möglichen Minderheiten degradiert? Wir leben in einer komplexen Welt. Eine einfache, allgemeingültige Antwort auf diese Frage gibt es, wie so häufig, nicht. Sagen wir also: Jein.
Es gibt Stimmen, die behaupten, was wir (an Popkultur) konsumieren, definiert nicht, wer wir sind. Die feministische Autorin Sady Doyle beispielsweise sagt: „Ich lebe in einer Kultur voller Probleme. Ich bin nicht das, was ich kaufe. Sogar was ich mag, bin nicht ich. Ich muss anerkennen, dass [beleidigende Songtexte] existieren, unabhängig davon, ob ich sie mir anhöre oder nicht. Es ist an mir selbst, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, um feststellen zu können, ob ein Lied schrecklich ist… Werke kommunizieren mit uns, und zwar nicht immer ganz rational.“ Sie hat außerdem eine Meinung zu Kanye West. Sie findet ihn, trotz seiner langen Geschichte frauenfeindlicher Texte, interessant. „Ich habe seit Jahren ein sehr kompliziertes Verhältnis zu der öffentlichen Person Kanye West. Kanye und Frauen, Kanye und Trump, Kanye, wie er auf einem fliegenden Teppich über die Bühne schwebt. Ich bin mir jeglicher Kritik, die man an ihm üben kann, mehr als bewusst. Auf der anderen Seite aber fühle ich mich zu seiner Figur hingezogen, weil sie eine männliche Verletzlichkeit in die Öffentlichkeit bringt. Die Verbindung, die Kanye West zu seinen Gefühlen hat und offenlegt, widerspricht dem traditionellen Rollenverständnis.“
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Lieder sind genauso wenig eindimensional wie die Menschen, die sie schreiben. Und viele finden auch, dass die Aufgabe von Künstler*innen genau darin besteht, ihr Publikum herauszufordern, indem sie provozieren sowie Werte und Vorstellungen hinterfragen. Wie schon gesagt, leben wir in einer komplexen Realität, die sich aus einem Knäuel historischer Konflikte und persönlicher Vorlieben zusammensetzt und die mehrschichtiger ist, als die Politik abzubilden vermag.
Für Kritiker*innen mag es einfach erscheinen, insbesondere Hip-Hop als das frauenverachtende Genre schlechthin darzustellen. Doch auch hier muss man unterscheiden: Erstens ist nicht jeder männliche Rapper misogyn, zweitens handeln einige Lieder eben auch explizit von Sex. Als weibliche Beispiele wären da unter anderem „Sock It 2 Me“ von Missy Elliott oder „Rock The Boat“ von Aaliyah zu nennen. Trotzdem sollte sich, wer sich mit dem Genre beschäftigt, auch mit der Sprache und den Inhalten auseinandersetzen. Das Berliner DJ-Duo Hoe_Mies, bestehend aus den Freundinnen Gizem Adiyaman und Lucia Luciano, veranstaltet seit mittlerweile über einem Jahr Hip-Hop-Partys, die Frauen, non-binären, queeren und Trans*personen einen Ort bieten sollen, sorglos zu ihrer Lieblingsmusik zu feiern. Es gibt dort auch Open Decks, bei denen explizit keine Cis-Männer auflegen sollen, wie es sonst so oft der Fall auf Hip-Hop-Partys ist. Im Interview mit Refinery29 erzählen sie, dass sie den Widerspruch zwischen politischer Gesinnung und teilweise derben Lyrics auf ihre eigene Art und Weise lösen. Gizem sagt: „R. Kelly spiele ich nicht, Chris Brown auch nicht. Wenn Leute danach fragen, sage ich, ‚hab ich nicht.‘ Aber du weißt ja auch nicht immer, was für Leichen jede*r Artist im Keller hat.“ Für sie verläuft die Grenze ganz klar bei sexualisierter Gewalt: „Ich habe auch Kodak Black [...] gehört. Aber wenn man das dann mitkriegt: Kodak Black hat jetzt eine Anzeige wegen Vergewaltigung am Hals und sitzt in U-Haft. [...] Da denke ich mir: Nee, raus damit. Solchen Artists darf man nicht weiter eine Plattform geben, weil das bedeutet, dass ihr Verhalten keine Konsequenzen hat.“ Lucia lässt sich von der Stimmung leiten: „Ich spiele [etwa Azealia Banks] dann trotzdem manchmal, weil es immer wieder Momente gibt, in denen ich denke, Track XY würde jetzt einfach so perfekt passen.“
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Wer das gesamte Hip-Hop-Genre verurteilt, sollte sich darüber bewusst sein, dass die Objektivierung von Frauen weit über die Grenzen dieser Musikrichtung hinausgeht und tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Deren Ausläufer mögen in anderen Bereichen der Popkultur weniger offen zur Schau gestellt werden, vorhanden ist das Phänomen aber trotzdem.
Außerdem fehlt weit, wer glaubt, es seien nur Männer, die stereotype Rollenbilder am Leben halten. Auch einige weibliche Künstlerinnen halten das Hausfrauenideal derart hoch, dass man sich am liebsten nur noch an den Kopf fassen möchte. Zu sehen beispielsweise an der schon genannten Meghan Trainor, die neben „All About That Bass“ auch noch eine Gebrauchsanleitung an ihren zukünftigen Ehemann verfasst hat: „Dear Future Husband“. Kostprobe gefällig? „Vergiss nicht, mir zu jedem Jahrestag Blumen zu kaufen / Denn wenn du mich richtig behandelst / Werde ich die perfekte Ehefrau sein / Den Einkauf erledigen / Und dir kaufen, was du brauchst.“ Ach, Meghan. Oder Nicki Minaj in David Guettas „Hey Mama“: „Yes, I do the cooking / Yes, I do the cleaning / Plus, I keep the na-na real sweet for your eating /Yes, you be the boss, and yes, I be respecting / Whatever that you tell me / 'Cause it's game you be spitting“. Stimmt, der Herr des Hauses hat ja schließlich das Wort, da kann die Frau mal schön den Mund halten und sich ein bisschen pflegen, damit der Mann sie auch lange sexy findet. Und bitte das Kochen und Putzen nicht vergessen. Die Fünfziger lassen grüßen? „Hey Mama“ wurde 2014 veröffentlicht, erreichte locker die Top 10 der deutschen Single-Charts und wurde weltweit mit Gold und Platin ausgezeichnet.
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Wenn du dich in dem Zwiespalt befindest, das Produkt eines Künstlers oder einer Künstlerin zwar zu lieben, es moralisch aber nicht befürworten kannst, hat die Autorin Sady Doyle noch einen Tipp. „Meiner Meinung nach musst du dir eingestehen, dass nur, weil du [ein Lied] magst, diese Tatsache dem Werk keinen moralischen Blankocheck ausfüllt. Du solltest dich darauf gefasst machen, ein paar hässlichen Tatsachen ins Auge zu sehen. Ich muss mich damit abfinden, dass ich [den Woody-Allen-Film] Manhattan mag und finde, dass ich Rosemaries Baby oder Chinatown [von Roman Polanski] sehen kann, solange ich nicht für diese Filme zahle. Ich will einfach sicherstellen, dass kein Geld mehr an Roman Polanski geht.“
Natürlich kann niemand ernsthaft glauben, dass sich eine Unterhaltungsindustrie, die großteils von weißen Männer kontrolliert und vermarktet wird, in der näheren Zukunft wesentlich verändert. Umso wichtiger ist es, verschiedene Perspektiven darzustellen und Menschen zu Wort kommen zu lassen, die nicht nur das wiedergeben, was die Gesellschaft (vermeintlich) von ihnen erwartet. Aminatou Sow ist unter anderem die eine Hälfte des Podcast-Duos Call Your Girlfriend. Sie sagt: „In der Regel sind die Menschen, die machtvolle Positionen in der Popkultur innehaben, weiß und männlich. Und die richten ihre Inhalte an Leuten wie sich selbst aus. Die Diskussion, ob Leute ins Kino gehen würden, um eine weibliche Superheldin wie Wonder Woman zu sehen, war so mit die dümmste Debatte, die wir hätten führen können. Es ist schlichtweg eine schlechte Businessentscheidung, keine Filme für Frauen zu drehen, weil sie 50 Prozent des Publikums ausmachen. Es gibt genug Erhebungen darüber, dass Frauen sehr wohl Filme ansehen. Wenn dann mal ein guter, witziger Film von und mit Frauen rauskommt, wie beispielsweise Bridesmaids [das Drehbuch stammt von Annie Mumolo und Kristen Wiig], werden sie als Strohfeuer angesehen. Das sagt viel über die Fantasielosigkeit der Filmindustrie aus. Vielleicht sollten die Leute, die darin arbeiten, zugeben, dass es ihnen, um Geschichten erzählen zu können, die sich nicht um sie selbst drehen, schlicht an Einfühlungsvermögen und Kreativität fehlt.“
Formate wie Hoe_Mies, Künstler*innen wie der transgender* Rapper Mykki Blanco und erfolgreiche Filme wie Ladybird von Greta Gerwig, die hierbei Regie führte und das Drehbuch schrieb, zeigen, dass vermehrt unterschiedliche Stimmen in der Popkultur zu Wort kommen und das Spektrum an Geschichten diverser wird. Ob du weiterhin Musik mit Texten hörst, die nicht deinen persönlichen Werten entsprechen, oder Werke konsumierst, deren Schöpfer verurteilte Vergewaltiger sind, ist schlussendlich dir selbst überlassen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten ist jedoch wünschenswert und sollte auch in deinem eigenen Interesse liegen. Selbstgeißelung und absolute Spaßbefreiung ist aber sicher auch nicht der richtige Weg, mit widersprüchlichen Gefühlen umzugehen. Wenn dir also danach ist und du niemand anderen damit störst, gönn’ dir die Freude und hör eine Runde „Shake Ya Ass“ von Mystikal.
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