Berlin ersetzt seit Jahren die zunehmend überteuerten und von Investmentfirmen besetzten Städte London und New York als neuen Melting Pot für kreative Freigeister. Interessante Persönlichkeiten aus aller Welt tingeln sich in den Trendbezirken Mitte, Neukölln, Kreuzberg und Wedding, um zu vergleichsweise niedrigen Kosten ihre Büros, Ateliers und Studios dort zu eröffnen. Designer, Musiker und Künstler zieht es besonders stark in die Hauptstadt, um im bunten Miteinander das internationale Flair zu genießen und Berlin als Basis für interdisziplinäre Projekte zu nutzen. Als Karriere-Zwischenstopp, zur Erholung von Lebenskrisen oder zur erneuten Selbstfindung scheint die Stadt zu einem populären Zufluchtsort geworden zu sein.
Doch auch Berlin ist kein Allheilmittel gegen die Leiden und Lasten der menschlichen Existenz.
Das Stadtbild: arm aber sexy. Viele Stadtteile sind geprägt von alten baufälligen Komplexen, verlassenen Fabriken und leerstehenden Gebäuden. Es gibt noch freie Flächen hier und da; baufällige Gebiete reihen sich neben sanierte Wohnblocks. Das Stadtbild ist abwechslungsreich, strebt nach keinerlei Perfektion, ist weder glatt noch langweilig. Diese offenen, niemals fertigen Stadtstrukturen bieten Platz für neue Ideen, auch in unseren Köpfen, weshalb es leicht fällt, sich in dieser Stadt mit den eigenen Ecken und Kanten wohlzufühlen.
Kulturelle Inspiration. Kaum eine deutsche Stadt hat kulturell so viel zu bieten wie Berlin. Mit gleich mehreren Opernhäusern, einer Philharmonie, zahlreichen traditionell etablierten Theatern neben neuen, unabhängigen Bühnen, blüht die kulturelle Vielfalt jeden Tag aufs Neue auf. Woche um Woche locken uns Vernissagen in kleine Gallerien, alle drei Wochen warten die großen Museen mit Einladungen zu Ausstellungseröffnungen in ihre Häuser ein — ein wahres Paradies für Kunstliebhaber und alle, die sich inspirieren lassen wollen.
Das Menschenbild: tolerant und gleichgültig. Zwischen Toleranz und Gleichgültigkeit fühlen sich Alt- und Neuberliner wohl, um so zu sein, wie sie sind und zu leben, wie sie möchten. Auf der Straße wird man selten schräg angeguckt, ob nun im schicken Kostüm kombiniert zu Turnschuhen mit der Straßenbahn zur Oper fahrend oder mit großen zerrissenem 80s-Punk-Band-Tee-Shirt bekleidet auf dem Weg zum Rock- Open-Air — you can do it. It’s okay. Ich habe bisher keine Stadt erlebt, in der es tatsächlich so total egal ist, wie man aussieht. Auch ist es hier mehr als in anderen Städten vollkommen akzeptiert, die eigene Sexualität auszuleben. Tagsüber Mann, nachts Frau — it’s okay. Morgens Baumwolle, abends Latex — it’s okay.
Projektarbeit. Es ist nicht nur ein Mythos, nein, tatsächlich scheinen in Berlin mindestens 40% der Menschen statt eines festen 9-To-5-Jobs an mehreren halb persönlichen, halb geschäftlichen Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Als Standardkonstellation zeigt sich besonders beliebt die Kombination aus Barfrau, die nebenbei ihr DIY-Startup großzieht, ihre handgefertigten Ledertaschen online verkauft und Meditations-Workshops anbietet. Im Vordergrund steht für Berliner oftmals, den eigenen Selbstverwirklichungsdrang mit dem nötigen Übel des Geldverdienens so zu koppeln, dass genug Zeit für das spontane Ausleben nihilistischer Veranlagungen bleibt. Viel Freiheit — wenig Stabilität. Wer sich nach Sicherheit sehnt, hat es in Berlin möglicherweise schwerer als woanders.
Nachtleben. Die Schwulen- und Lesben-Szene wächst und gedeiht seit Jahrzehnten und prägt die bunte Vielfalt des Berliner Nachtlebens aktiv. Es gibt viele Angebote und spezielle Partyreihen, die jeder noch so ungewöhnlichen Vorliebe frönen und das Treffen von Gleichgesinnten einfach gestalten. Spontane Techno-Underground-Veranstaltungen in verlassenen Industrieruinen donnerstagnachts, Sonntagsandachten im Berghain, die Gegenreihe im KitKat und jährlich stattfindende Festivals im nahen Umkreis, wie die Fusion — bieten Gelegenheit, der Realität in regelmäßigen Abständen für einige Stunden oder gar einige Tage zu entfliehen. Hier sind wir allerdings auch schon beim Stichwort:
Realitätsflucht. Nicht jedem ist es in die Wiege gelegt, das zeitweilige Verlassen der Realität unbeschadet wegzustecken. Zu reizvoll sind die vielfältigen Versuchungen. Drogenkonsum — von als harmlos erscheinendes Cannabis, MDMA und Koks bis hin zum leicht skeptisch zu betrachtendem LSD und weiteren gemischten Pillen — scheint in Berlin dazuzugehören wie der morgendliche Double-Caramel-Expresso to go. Nach dem Motto: es ginge auch ohne, aber ab und zu auch mit, wird das Erlebnis doch erst komplett. Ehe man sich’s versieht, gehören die bunten Kristalle und die mit lustigen Bildchen versehenen Pillchen zum Wochenende dazu wie der Sonntagsspaziergang über den Mauerpark. Montags bis freitags wird mühselig abgearbeitet und regeneriert, um ab Freitagnacht abermals den Strapazen des Alltags zu entfliehen.
Berlin bietet viel, Berlin nimmt viel.
Zwischen Selbstfindung und Eigenauflösung reihen sich einige Faktoren aneinander, die wir nun etwas genauer betrachtet haben. Persönliche Entfaltung wird in Berlin begrüßt, und viele nehmen diese Einladung dankend an. Wie weit wir diese Tür öffnen, liegt an uns. Wer dauerhaft in Berlin leben möchte und die Stadt nicht nur als zwischenzeitlichen Spielplatz nutzt, braucht gute Strategien, die eigenen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Wer es schafft, sich hier und da selbst ein paar Schranken zu setzen, wird die Zeit in Berlin zur Verwirklichung von Träumen und Wünschen nutzen können, ohne akute Eigenauflösungsgefahren.
WerbungWERBUNG