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Staffel 2 von Euphoria: Warum ich nach Episode 5 nicht mehr weitergucke

Foto: bereitgestellt von HBO.
Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um sexuellen Missbrauch und Drogenkonsum. 

Achtung: Spoiler zur zweiten Staffel von Euphoria direkt voraus!

Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich zum ersten Mal beim Schauen von Euphoria dachte, jemand würde gleich sexuell missbraucht werden. Das war in Staffel 1, als Nate Jacobs (düster gespielt von Jacob Elordi) einen College-Studenten angreift, weil der bei einer Party mit Nates damaliger Freundin Maddy (Alexa Demie) geschlafen hat. Nachdem er in die Wohnung des Typen eingebrochen ist, wartet Nate auf dessen Rückkehr und befiehlt ihm dann, sich vor ihm hinzuknien. Es war die erste vieler angespannter Szenen – und die bisher letzte davon bekamen wir in der neuesten Episode zu sehen, als Rue (Zendaya) auf Entzug und der Suche nach weiteren Pillen bei ihrem Drogendealer Laurie auftaucht und ihn um ihr nächstes High anfleht. Das Problem: Rue schuldet Laurie 10.000 Dollar für einen Koffer voller Drogen, die sie eigentlich hätte verkaufen sollen. Als Rue daraufhin nackt in Lauries Badewanne liegt, bekommt sie von ihm Morphium gespritzt und gesagt, dass sie als Frau andere Möglichkeiten habe, ihre Schulden abzubezahlen. „Das ist einer der Vorteile, eine Frau zu sein: Selbst wenn du kein Geld hast, hast du immer noch etwas, was die Leute wollen.“ Und als der Bildschirm dann schwarz wurde, während Rue in Ohnmacht fällt, hatte ich riesige Angst davor, was wir als Nächstes sehen würden – in welcher Situation Rue aufwachen würde.
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Zum Glück wird in beiden Szenen niemand wirklich sexuell missbraucht. Darum geht es aber gar nicht. Es gibt zahlreiche weitere Szenen, in denen die Serie die Grenze zwischen körperlicher und sexueller Gewalt verschwimmen lässt. Sie wird nie richtig überschritten – doch die Angst davor ist definitiv zu spüren.
Diese Szenen sind keine leichte Kost, und dennoch sehe ich sie mir alle an, wenn auch meist mit den Händen vorm Gesicht, Herzrasen und einem Frosch im Hals. Mich diesen schwer anzusehenden und gruseligen Geschichten auszusetzen, hatte auf mich bisher dieselbe Wirkung wie meine liebsten True-Crime-Podcasts: Ich stelle mich Dingen, die mir Angst machen – in dem beruhigenden Wissen, dass ich da auch sicher wieder rauskomme. 
Die letzte Episode von Euphoria fühlte sich aber anders an. Mit meiner Schwester neben mir musste ich einige Male weggucken, während sich Rue für ihr nächstes High in immer gefährlichere Situationen begab. Als Rue von Laurie ausgezogen wurde und Morphium gespritzt bekam, war ich ganz unruhig und kurzatmig. Als Rue am nächsten Morgen aufwachte und verzweifelt an verschlossenen Türen und Fenstern rüttelte, um zu entkommen, meinte meine Schwester, ihr sei übel. Zehn Minuten nach dem Ende der Episode hatte sie beim Zähneputzen eine ausgewachsene Panikattacke.
Und es tut mir leid, Zendaya, aber: Keine Anzahl von Emmy-Nominierungen ist diesen Stress wert. Die enorme körperliche Reaktion meiner Schwester auf eine fiktive Serienepisode war nicht nur angsteinflößend, sondern öffnete mir die Augen: Wollte ich mich wirklich solchen Geschichten und gruseligen Realitäten aussetzen? Ganz ehrlich: Die Antwort ist Nein. Obwohl ich mich beim Anschauen vielleicht sicher fühle, nehmen mir solche Storys nicht die Angst davor, so etwas selbst einmal zu durchleben. Noch dazu grüble ich meist noch lange nach der Episode über diese Szenen – und das ist es mir in einer postpandemischen Welt einfach nicht wert.
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Zugegeben: Die Serie – und ihre Stars – wissen und sehen ein, dass die Serie emotional fordernd sein kann. Tatsächlich baut sie sogar ein wenig darauf. Vor der zweiten Staffel teilte Zendaya auf ihren Social-Media-Accounts eine Triggerwarnung, dass Staffel 2 „zutiefst emotional ist und sich mit Themen beschäftigt, die triggernd und schwierig anzusehen sein können“. Das beschränkt sich aber nicht nur auf diese neue Staffel; schon seit seiner Premiere im Juni 2019 bekommt Euphoria sowohl Lob als auch Kritik für seine unverfrorene Darstellung der dunklen Seite der Teenagerzeit. Die Serie hat sich schon mehrfach mit Themen wie häuslicher Gewalt, Drogenmissbrauch und ungeschütztem, gewalttätigem Sex auseinandergesetzt, um zu betonen, wie „kaputt“ diese Teens und wie schwierig ihre Leben sind. Das hat sich auch in Staffel 2 nicht geändert – im Gegenteil: Es sind mehr Gewaltszenen denn je darunter. Schon in der ersten Folge bekommt Nate am Ende mit einer Flasche eins übergezogen. Wegen Szenen wie dieser wurde die Serie – kaum überraschend – dafür kritisiert, Trauma zu ästhetisieren, in ihren Gewaltdarstellungen „unerbittlich explizit“ zu sein und „törichterweise… den Drogenmissbrauch von Schüler:innen zu verherrlichen“ (obwohl Szenen wie die, in der Rue neben einer Waschmaschine beinahe an einer Überdosis stirbt, nicht gerade Lust auf Drogenkonsum machen, kommentieren auch einige bei Twitter). 
Wie jemand auf solche Szenen reagiert, variiert abhängig von persönlichen Erfahrungen sehr stark, meint die Psychologin Cindy Graham. Für manche Menschen, die im echten Leben ähnliche Dramen erlebt haben, können traumatische Szenen wie diese als Möglichkeit zur Selbstreflexion oder als Anstoß zur Therapie dienen. Sie können allerdings auch triggernd wirken, warnt Graham. „Wer bereits sexuellem Missbrauch zum Opfer gefallen ist oder vielleicht eine Drogensucht durchlebt (hat), sollte mit solchen Themen besser nicht außerhalb eines sicheren Raums konfrontiert werden, sofern sie nicht schon in einer Therapie aufgearbeitet wurden.“
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Und selbst Menschen, die keine eigene Erfahrungen mit solchen Traumata haben, können von solchen Szenen beeinträchtigt werden. Das nennt sich eine „indirekte Traumatisierung“, auch „stellvertretende“ oder „sekundäre Traumatisierung“ durch das auf dem Bildschirm Gesehene. Wohingegen diese Begriffe häufig im Kontext von Pflegekräften oder Ersthelfer:innen verwendet werden, die mit den Traumata anderer Leute konfrontiert werden, können Menschen Graham zufolge auch durch den Medienkonsum solche sekundären Traumata erfahren – beispielsweise durch besonders erschreckende Nachrichtenbeiträge, und ja, auch durch fiktive Serien wie Euphoria, deren finstere Themen an Realismus grenzen. „Dadurch konsumierst du viel [Gewalt und Trauma] in sehr kurzer Zeit“, erklärt Graham. Und selbst, wenn du dich damit nicht persönlich identifizieren kannst, nimmst du dabei traumatische Bilder in dir auf. „Dabei kommt es darauf an, wie realistisch dir das alles vorkommt.“

In vielerlei Hinsicht erlaubt uns Rues gefährlicher Drogenmissbrauch, etwas Riskantes „auszuprobieren“, das wir in Wahrheit nie wirklich machen würden.

Demnach stelle ich mir die berechtigte Frage, warum Millionen von Menschen – inklusive mir – trotzdem Woche für Woche einschalten. Ja, die Ästhetik der Show ist ein Traum, und der attraktive Cast besteht aus einigen unserer aktuellen Lieblingsstars. Aber warum sehen wir uns das weiter an, wenn uns doch jede Episode quasi endloses Leid vor die Füße wirft? 
Das hat tatsächlich einige gute Gründe. Einen Teil davon macht die Faszination des Ganzen aus: Wir lieben den Leichtsinn dieser Teenager, den viele von uns Erwachsenen heute kaum noch nachvollziehen können. Oder wir fühlen uns davon an eine Zeit zurückerinnert, in der wir selbst noch jung und relativ sorgenfrei waren. „Es ist eine interessante Mischung aus Anreiz und Abscheu, die viele Leute in den Bann zieht“, meint die Psychologin Danielle Roeske, die sich auf die Behandlung süchtiger Jugendlichen spezialisiert hat. „Einerseits denken wir uns dabei: ‚Oh, das ist ja furchtbar, damit will ich nichts zu tun haben‘ – andererseits finden wir es aber auch spannend und sind neugierig darauf, wie es wohl wäre, so frei und risikofreudig zu leben.“
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Und klar: Manche von uns stehen eben auch auf den Nervenkitzel, solche Traumata „mitzuerleben“. In vielerlei Hinsicht erlaubt uns Rues gefährlicher Drogenmissbrauch, etwas Riskantes „auszuprobieren“, das wir in Wahrheit nie wirklich machen würden. Es lässt uns eine Erfahrung mitansehen, die uns völlig fremd ist, und beschert uns den damit einhergehenden Adrenalinrausch. „Das ist eine sichere Möglichkeit, sich mit dunkleren Aspekten unserer Realität auseinanderzusetzen“, erklärt Roeske. „Es ist spannend, aber weniger direkt. Wir setzen uns damit keiner eigenen Gefahr aus.“ Ja, wir überlassen uns und unsere Nerven willentlich dem Auf und Ab einer emotionalen Achterbahn – am Ende der Episode können wir uns aber bewusst dafür entscheiden, sie auch wieder zu verlassen.
Diese wiederholte Auseinandersetzung mit Content, der uns Angst macht, kann sogar ratsam und hilfreich sein – insbesondere im Zusammenhang mit deinen größten Ängsten. Genau deswegen ist ein großer Teil der Fans von True Crime und Serien wie Law & Order SVU weiblich. Für viele Leute – insbesondere Frauen – ist das Schauen und/oder Hören solcher Inhalte eine Möglichkeit, Wissen zu eventuellen furchtbaren Erlebnissen zu sammeln und sich „Was würde ich tun?“-Strategien zurechtzulegen, um sich sicherer und besser vorbereitet zu fühlen.
Ich persönlich mache das schon seit Jahren. Ich liebe Bücher von Ann Rule, in denen es um Frauen geht, die sexuell missbraucht und/oder ermordet wurden, und Serien wie Law & Order SVU und Aktenzeichen XY. In der Grundschule überredete ich meine Eltern dazu, mir eine Info-Videokassette über Entführungen zu kaufen, die ich mir immer wieder anschaute, falls ich mal wissen musste, wie ich aus dem Kofferraum eines Autos entkommen konnte. Ich umgebe mich bewusst mit den Dingen, die mir am meisten Angst machen, um diese Furcht zu normalisieren und zu schwächen.
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Genau deswegen überrascht es mich, dass gerade Euphoria – eine Serie über 17-jährige Schüler:innen, die einfach ihre Leben leben – für mich der Tropfen war, der mein Fass zum Überlaufen brachte, nachdem ich mich schon jahrelang in Storys gestürzt habe, in denen es explizit um sexuelle Gewalt geht. Was ist denn so anders an dieser Serie? Naja, zuallererst mal erwartet man in Serien wie Law & Order SVU und Aktenzeichen XY eine gewisse Form von Trauma. Wenn es darin um Missbrauch geht, ereignet der sich meistens aber nicht vor der Kamera, und du weißt oft schon vorher, wie die Episode strukturiert ist. Du kannst dich also mental darauf vorbereiten – bei Euphoria ist das alles anders.

Wenn du die Gewalt und den Sex und die anderen Extreme rausnimmst – was bleibt dann übrig? Und ist das wirklich eine hochwertige Serie?

Amil Niazi
Vielleicht geht es mir aber auch vor allem darum, dass Euphoria gar nicht mal so gut ist. Die Serie verlässt sich fast schon unnötig doll auf diese Angst, um sich als „wichtig“ darzustellen. Wie der Drehbuchautor Amil Niazi letztens in einer Episode des Podcasts Pop Chat sagte, erscheint diese Serie in einer Zeit, in der wir als Zuschauer:innen hinterfragen, was es uns bringt, Missbrauch und Trauma zu sehen, wenn es dabei nur um deren Darstellung allein zu gehen scheint. Und tatsächlich wäre Euphoria ohne dieses Trauma relativ leer. „Wenn du die Gewalt und den Sex und die anderen Extreme rausnimmst – was bleibt dann übrig? Und ist das wirklich eine hochwertige Serie? Ist sie wirklich gut?“, fragt Niazi. „Ich habe das Gefühl, das Pendel schwingt eher in Richtung Nein.“ Und da muss ich ihm zustimmen.
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Es ist dieses Gefühl, als Zuschauerin durch traumatische Szenen wie diese derart emotional beeinflusst zu werden, das mich hat einsehen lassen, dass diese Serien mir einfach nichts mehr geben. Im Laufe der letzten zwei Jahre habe ich mich von immer mehr Serien verabschiedet, die mich früher fasziniert haben. 
Das kann natürlich auch mitunter damit zu tun haben, dass ich einfach älter werde. Wie auch Roeske betont, haben wir alle unterschiedliche Toleranzgrenzen dafür, wie viel Gewalt und/oder Angst wir uns aussetzen können und wollen; diese Grenzen können sich verschieben, je älter wir werden und je klarer uns wird, wie sehr sich dieser Content auf uns und unser Wohlbefinden auswirken kann. Wir treffen inzwischen vielleicht bewusstere, bessere Entscheidungen. Und vielleicht spielt hier auch die Pandemie eine große Rolle. Nach zwei Jahren voller deprimierender Nachrichten im echten Leben möchte ich einfach keine Zeit mehr an Dinge verschwenden, die mir kein gutes Gefühl geben – und zumindest in Sachen Entertainment kann ich das ganz bewusst kontrollieren. Die Einsicht, dass ich über diese Form von Content hinweg bin, deutet sich mir schon seit einer Weile an. Es brauchte aber wohl diese neue Staffel Euphoria, um mich endgültig zu der Entscheidung zu bringen, solche Darstellungen aus meinem Leben zu streichen – indem ich einfach nicht einschalte. 
Wenn du selbst betroffen bist oder jemanden kennst, die oder der Opfer häuslicher und/oder sexueller Gewalt ist, kannst du dich beispielsweise unter der Nummer 08000 116 016 oder per Online-Beratung an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ wenden – ein vertrauliches, kostenfreies 24-Stunden-Beratungsangebot, das anonyme, mehrsprachige und barrierefreie Unterstützung bietet. Eine Liste mit weiteren Ansprechpartnern findest du hier.

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