„Es darf nur einer von euch rein“, sagt ein Supermarktangestellter zu uns. Ich kralle die Hand meines Ehemanns. Mein Herz rast. „Er ist mein Blindenführer“, stammle ich. Wir stehen am Anfang einer Schlange, die bis zur nächsten Kreuzung geht und warten darauf, dass jemand rauskommt, damit wir einkaufen gehen können. Der Angestellte zieht seine Augenbraue hoch und entgegnet spöttisch: „Händchenhalten darf man übrigens auch nicht.“ Mein Mann antwortet ernst: „Das ist kein Witz. Ich bin ihr Blindenführer.“ Es sind ohnehin schon gefühlte 40 Grad Celsius und ich spüre, wie mir der Schweiß die Arme hinunterläuft. Ich weiß nicht, ob es an der Hitze liegt oder an der Panik, die mich überkommt. Ich lasse die Hand meines Mannes los und hacke mich stattdessen ein. „Können wir reingehen?“, frage ich zaghaft. Der Angestellte nickt zögerlich und lässt uns durch.
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Das war bei weitem nicht der einzige Vorfall, den ich in den letzten Monaten erlebt habe.
Für mich gehört es zum Alltag, in Menschen oder Dinge hineinzulaufen. Ich habe Retinitis Pigmentosa (RP), eine schleichende beziehungsweise schubweise verlaufende Augenerkrankung, die eine Zerstörung der Netzhaut zur Folge hat. Etwa drei Millionen Menschen leiden weltweit darunter – in Deutschland sind es 30.000 bis 40.000. Aktuell äußert sich das bei mir in einem sogenannten Tunnelblick. Ich kann also zumindest noch eingeschränkt sehen, doch es fällt mir schwer, mich im Raum zu orientieren. Wenn du willst, reib dir kurz die Augen und schau dann durch eine Klopapier- oder Küchenrolle – dann hast du einen Eindruck davon, was und wie ich sehen kann.
Nichts und niemand hätte mich auf eine Welt der Masken und des Social Distancings vorbereiten können. Allein durch schmale Supermarktgänge zu gehen, ist eine echte Herausforderung, wenn du immer genügend Abstand zu anderen halten sollst, die du aber gar nicht siehst. Ohne jemanden an meiner Seite, der oder die mich verbal oder physisch führt, kann ich aktuell praktisch nicht einkaufen gehen. Und wenn ich es doch tue, werde ich oft beschimpft. (Ich kann dich nicht sehen, wie du darauf wartest, im Gang an mir vorbeizugehen. Wenn du “Idiot“ murmelst, machst du die Sache damit nicht besser.) Die Pandemie zwingt uns alle dazu, unseren Alltag und unser Verhalten zu überdenken. In den sozialen Medien sehen wir Posts, die uns auffordern, nett zueinander zu sein und ich glaube, viele versuchen auch, mitfühlend zu sein. Doch für Personen mit einer Be_hinderung bringt die Corona-Krise noch mal ganz eigene Besonderheiten mit sich.
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Man sieht mir meine Be_hinderung nicht an. Wenn ich es also nicht von mir aus erzähle, weiß mein Gegenüber nicht, dass ich offiziell als blind eingestuft wurde. Ich wurde unter anderem als “sehbe_hindert“ und “eingeschränkt sehfähig“ bezeichnet und trage zwar keinen Blindenstock, brauche aber oft die Hilfe eines Blindenführers oder einer Blindenführerin.
Es ist schon unter normalen Umständen nicht leicht, sich durch’s Leben zu manövrieren, wenn du nur sehr wenig siehst. Doch jetzt ist das Ganze noch mal deutlich schwerer – und Abstandsregeln machen da nur einen Teil der Herausforderungen aus. In einigen Geschäften gibt es Einbahnstraßensysteme, damit man sich nicht entgegenläuft, sondern im Kreis. Manchmal zeigen Klebestreifen auf dem Fußboden an, wo man stehen darf, wenn man in einer Schlange wartet. Diese Kennzeichnungen sehe ich oft nicht. Dazu kommt, dass ich Obst in die Hand nehmen und nah vor die Augen führen muss, um herauszufinden, ob es frisch ist. Dabei wäre es ja eigentlich gut, gerade so wenig wie möglich anzufassen – besonders, wenn man es am Ende nicht kauft und wieder zurück ins Regal legt. Ein Fehltritt, ein versehentlicher Verstoß gegen die Maßnahmen und ich werde direkt böse angeschaut oder dumm angemacht. Ich bekomme regelmäßig Dinge zu hören wie „Muss ich Ihnen die AHA-Maßnahmen noch mal erklären?“ und „Jetzt passen Sie doch auf!“ – genauso wie die Frage: „Sind sie blind, oder was?“. Ja. Das bin ich tatsächlich. Diese Antwort führt dann meist zu einem abrupten Ende der Unterhaltung.
Einfache Aufgaben, wie im Supermarkt einkaufen zu gehen, sorgen bei mir für gemischte Gefühle. Es ist befreiend, furchterregend und ermüdend. Obwohl ich die Maßnahmen befürworte, sind sie für Menschen wie mich, die Hilfe von einer nicht-be_hinderten Person bei Alltagsaufgaben brauchen, nur schwer umsetzbar. Und das geht anderen Betroffenen sicher ähnlich. Apropos: Allein in Deutschland wird die Zahl der sehbe_hinderten und blinden Menschen auf etwa 1,2 Millionen geschätzt, wobei diese Zahl längst veraltet ist und mittlerweile, auch aufgrund der alternden Bevölkerung, deutlich höher sein könnte. Das Problem: In Deutschland werden blinde und sehbe_hinderte Menschen nicht gezählt – obwohl empirisch erhobene Daten wirklich wichtig wären und der DBSV (Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.) sie schon seit vielen Jahren fordert, damit daraus beispielsweise Maßnahmen abgeleitet werden können.
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Zurück zu den Alltagsherausforderungen. All meine Supermarktbesuche in den letzten Wochen waren nichts im Vergleich zu dem was ich erlebt habe, als ich mich das erste Mal auf COVID-19 testen lassen musste. Mein Ehemann wurde gebeten, zu gehen, obwohl ich angegeben hatte, dass er mein Blindenführer war. Er musste anderthalb Stunden draußen in der Kälte warten (das war im Frühling) und mir wurde gesagt, man würde mir – einer verängstigten, be_hinderten Patientin ohne Blindenführer – helfen. Doch dem war nicht so.
Jemand – ich kann nicht sagen wer – führte mich widerwillig in einen Raum, zeigte auf einen Stuhl und sagte zu mir, ich solle mich hinsetzen. Ich konnte den Stuhl erst nicht sehen, schaffte es aber zum Glück, mich irgendwie im Zimmer zu orientieren. In meiner Akte hatte niemand vermerkt, dass ich sehbe_hindert bin. In dem Moment als die Person, die mich in den Raum geführt hatte, die Tür hinter sich zumachte, trug sie dieses Wissen also mit sich fort. Der Arzt trat ein, stellte sich vor und erklärte mir, wie das Ganze ablaufen würde. Er stand an der Tür, um den vorgeschriebenen Abstand einhalten zu können. Wenn die Untersuchung fertig ist, soll ich beim Hinausgehen die grüne Karte umdrehen, so dass die rote Seite zu sehen ist. Das ist das Zeichen dafür, dass der Raum desinfiziert werden muss. „Ich brauche Hilfe“, platzte ich heraus, doch es war bereits zu spät – er war schon weg. Wo genau ist diese Karte? An der Wand? An der Tür? Nachdem ich die Wand mit meiner eingeschränkten Sehkraft abgesucht hatte, fand ich sie endlich. Ich bat nochmals um Hilfe, wurde aber mit einem forschen „Reinigen Sie sich die Hände“ abgewürgt. Die Person deutete auf etwas – ich denke es war ein Desinfektionsspender, aber ich konnte es nicht richtig erkennen. Zum Glück sah ein Sicherheitsbediensteter, wie verwirrt ich war und sagte: „Gerade aus, folgen Sie meiner Stimme.“ Er klang mitfühlend und verständnisvoll und einen Moment lang hatte ich das Gefühl, jemand würde sich tatsächlich um mich scheren. Wer weiß, vielleicht hatte er gehört, wie mein Mann und ich den Schwestern hinter der Plexiglasscheibe erklärt hatten, dass ich Hilfe brauche? In jedem Fall war das für mich ein Moment der Hoffnung in einer Situation voller Angst.
Ich könnte noch viel mehr Geschichten wie diese erzählen, doch stattdessen lass mich diesen Artikel mit einer einfachen Bitte beenden.
Das ist für uns alle unbekanntes Terrain; wir haben alle Angst vor der Zukunft. Doch für Menschen mit Be_hinderungen ist die aktuelle Zeit besonders herausfordernd also bitte sei verständnisvoll. Wenn dich jemand um Hilfe bitte, verspotte sie oder ihn nicht und zieh nicht deine Augenbraue hoch. Wenn jemand zu nah an dich herankommt, lächle die Person einfach an und weise sie ruhig und freundlich darauf hin. Wenn jemand keine Maske trägt, geh nicht automatisch davon aus, dass ihm oder ihr die Maßnahmen und das Leben anderer egal sind. Nicht alle Menschen handeln in böswilliger Absicht und nicht alle Be_hinderungen sind sichtbar.
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