Spagat zwischen Religion & Zeitgeist: Sie ist Pfarrerin & Rockabilly zugleich!
Dr. Annina Ligniez ist Pfarrerin und Feministin. Täglich meistert sie ein Spagat zwischen Religion und Zeitgeist.
Was machst du denn beruflich, fragt ein Mann seine neue Nachbarin, mit der er bereits seit ein paar Minuten so locker im Treppenhaus schnackt. Er scheint die Frau mit der herzlichen lauten Lache, den roten Lippen und dem schwarzen Kleid mit den weißen Punkten sympathisch zu finden und will mehr über sie erfahren. Als sie seine Frage mit „Ich bin Pfarrerin“ beantwortet, stockt er kurz. Seine Stimme verändert sich, wird formeller, höflich sagt er: „Ich kann mit Kirche nichts anfangen.“
Eine kleine Anekdote, die symbolisch ist für Anninas täglichen Spagat zwischen Religion und Zeitgeist. Dr. Annina Ligniez ist evangelische Theologin, Lehrbeauftragte, Focusing Begleiterin und arbeitet als Pfarrerin in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Enger. Sie beschäftigt sich mit Feminismus innerhalb der Kirche, hält Vorträge zu Fragen von Sexualität und gendersensibler Seelsorge. Für sie bedeutet Theologie heute der moderne Umgang mit den Fragen des Lebens und der Liebe. Sie hat ein Faible für Rockabilly-Kleidung und hatte bis vor Kurzem noch einen Undercut, sie ist verheiratet mit einer Frau, und wenn ihr danach ist, dann raucht sie auch mal eine Zigarette. Sie tut eben Dinge, die jede andere Frau auch tut – und gleichzeitig verkündet sie das Wort Gottes.
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Ein weißer Kittel verleiht seinem Träger sofort ärztliche Souveränität, ein schwarzer Talar pastorale Autorität. Amtskleidung hat Macht. Und doch gilt es Schwarz-Weiß-Gedanken zu hinterfragen, das beweist das mutige Projekt der modernen Pfarrerin: Um klar zu machen, dass unter dem Talar ein Mensch aus Fleisch und Blut steckt, eine reale Frau mit Unsicherheiten, Freuden und einem Alltag, startete sie gemeinsam mit ihrem ehemaligen Studenten Bruno Biermann talarart.net. Die beiden wollen Öffentlichkeit schaffen für das liturgische Kleidungsstück und begrüßen den Diskurs für eine zeitgemäße christliche Lebensführung. „Es geht darum, dass wir nicht nur Pfarrer*innen sind. Viele denken, wir haben unser Leben im Griff und keine Probleme – aber wir sind auch nur Menschen. Und ich möchte genauso das Recht haben, modisch und leidenschaftlich zu sein“, so Ligniez. In drei Kapiteln bewegt sich das Fotoprojekt an der Grenze von Kirche und Kunst, von Erotik und Realismus. Die Bilder dokumentieren zum Beispiel Anninas Start in den Tag: Man sieht sie im Negligee im Bett, mit verstrubbelten Haaren und verquollen Augen, auf der Toilette und in der Dusche – und eben beim Anziehen des Talars. Jeder Schritt der Pfarrwerdung, wie die erste beiden Kapitel auch heißen, wird erläutert und fotografisch dargestellt.
Bruno studiert islamische und evangelische Theologie und arbeitet nebenbei als Fotograf. Die beiden haben mit der Fotoserie über die Macht des Talars vor über einem Jahr begonnen. Und ihre Beziehung veränderte sich dadurch: Sie wurden Diskussionspartner, WG-Mitbewohner und schließlich Freunde. „Es hat mich anfangs schon etwas Überwindung gekostet, ich war Brunos Dozentin an der Uni und uns trennen fast zwanzig Jahre Altersunterschied. Aber durch das Fotografieren und seine sensible Art entstand ein unglaubliches Vertrauen. Wir haben uns und die Theologie noch mal gemeinsam neu entdeckt“, sagt Annina. Durch die gemeinsame Arbeit wird sie zur Künstlerin „_nino“ und unterscheidet ganz bewusst zwischen dieser Rolle und ihrer Rolle als Pfarrerin.
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So ist es für sie ein schönes und gleichzeitig wichtiges Ritual, den Petticoat in der Sakristei aus- und das Pfarrgewand anzuziehen. Dort schminkt sie sich dann auch die roten Lippen ab, auf knalligen Nagellack und Parfum verzichtet sie an Tagen des Predigens von vorne rein: „Im Talar liegt die Aufmerksamkeit sowieso schon auf Gesicht und Händen. Im Gottesdienst nehme ich mich in meiner Weiblichkeit weitestgehend zurück, sonst lenke ich vom Wort Gottes ab“, erläutert sie. Es gebe Kolleginnen, die ihr Frau sein gezielt auch im Gottesdienst unterstreichen, deren hohen Absätzen durch die heiligen Hallen schallen. Ihr gutes Recht, sagt Annina, doch sie persönlich handhabt es anders. „Ich finde es gut, dass der Talar so sackig geschnitten ist. Meine Weiblichkeit feiere ich nicht auf der Kanzel.
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Ich will niemanden bekehren, sondern damit zeigen, dass alle in der Kirche willkommen sind und mir ist es einfach wichtig, auf die Menschen zuzugehen.
Dr. Annina Ligniez
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Ein Hauch von Cannes, rief ihr die Dozentenkollegin an der Uni Münster gern mal entgegen als sie mit Sonnenbrille und ihren roten Lackpumps durch die Halle lief. Auch wieder eine Anekdote, die zu Annina gehört. Im dritten Kapitel auf Talar Art „Beneath the talar“ nennt sie sich Rockabella Priestess und definiert ihre Modewelt. Was sie an Rockabilly so liebt, sagt sie, sei vor allem die Message dahinter: „Diese Mode ehrt die Weiblichkeit. Es gibt kein Bodyshaming, sondern die Kurven der Frauen werden betont und die Kleider werden auch in allen Größen in den Onlineshops präsentiert. Das finde ich einfach so schön.“
Auch auf talarart.net geht es um Körperakzeptanz. Retusche, Facetuning oder Photoshop wäre für Annina und Bruno nicht infrage gekommen. Die Fotos weichen nicht aus – vielleicht schreckt sie auch gerade deshalb noch vor der Veröffentlichung des vierten Kapitels, „_triptychon tabu“, zurück. „Das ist auf jeden Fall das provokativste aller Kapitel, denn wir thematisieren Sex, stoffliche Süchte, Burn-out und Suizid. Tabuthemen in der Kirche, aber alle existent. Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen. Aber ich bin jetzt ganz frisch Pfarrerin in der kleinen Dorfgemeinde in Ostwestfalen und werde schon sehr beäugt. Ich muss mir ganz genau überlegen, wie weit ich gehen kann. Was wird von mir erwartet? Was passiert, wenn die Gemeinde mich googelt und auf diese Bilder stößt?“
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Dass Annina das Triptychon veröffentlichen will, steht für sie fest. Der Zeitpunkt allerdings bedarf Feingefühl. „Als Pfarrerin unterstehe ich einem besonderen Pfarrerdienstgesetz, was bestimmte Erwartungen an mich hat und auch bestimmte Erwartungen an meine christliche Lebensführung. Das ist schon noch ein sensibles Thema, das geprägt von alten Rollenbildern ist“, so die Theologin. Sie meint, es existiere auch immer noch in den Köpfen die Vorstellung, dass eine Pfarrerin mit Mann und Kind im Pfarrhaus lebt. Eine alleinerziehende Pastorin zum Beispiel oder eine homosexuelle Frau wie Annina sorgt auf dem Dorf 2017 noch für Gesprächsstoff.
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Ich bin Pfarrerin und gleichzeitig eine Frau, die Provokation mit meiner Nacktheit finde ich spannend. Es ist eine aufregende Gratwanderung.
Dr. Annina Ligniez
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„Mein Auftrag ist es nicht, die Kirche wieder hip zu machen“, sagt Annina in unserem Gespräch – und doch trägt sie mit ihrer Offenheit dazu bei, dass junge Menschen die evangelische Kirche plötzlich als zeitgemäßer empfinden können oder Homosexuelle trotz jahrelanger Ausgrenzung wieder Vertrauen finden können. Unter diesem Talar ist nämlich nicht nur ein Mensch, sondern eine coole Sau.
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