Eigentlich wollte ich bei der letzten Bundestagswahl nicht wählen gehen. Ich habe mit meinen Freunden stundenlang am Küchentisch in meiner WG in München bei Augustiner-Bieren darüber diskutiert. Warum muss ich wählen gehen? Nur, weil ich eine Frau bin, muss ich keine Kinder bekommen. Nur, weil ich seit drei Jahren einen Freund habe, muss ich nicht heiraten. Nur, weil ich in einer Demokratie lebe, muss ich nicht meine Stimme für eine Partei abgeben. Ich muss gar nichts. Ich sehe das heute auch noch so. Mich nervt diese Rhetorik, die zum Wählen bekehren will.
Und doch hat sich etwas verändert. In diesem Jahr konnte ich es gar nicht abwarten, meine Stimme abzugeben: Vor zwei Wochen habe ich bereits mein Kreuz gemacht, den Wahlzettel zuerst in den blauen und dann in den roten Umschlag gesteckt, alles zugeklebt und abgeschickt. Und ich war nicht die Einzige. Die Poetry-Slammerin Sophie Passmann nahm ein kurzes Video auf, in dem sie über Briefwahl spricht, wie sonst Influencer über den neuesten Nagellack. In meiner Facebook-Timeline teilten meine Freunde stolz Fotos von roten Briefwahl-Umschlägen.
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Was ist los? Ich kann nur für mich sprechen und muss sagen, dass mich die vergangenen zwei Jahre neu politisiert haben. Ich bin kein unpolitischer Mensch, aber ich war eingeschlafen. Mir ging’s gut, also wird es den Anderen auch schon gut gehen. Ich hatte lange Zeit das Gefühl: Wir sind eigentlich safe. Merkel macht das alles schon irgendwie okay, die SPD schafft es nicht, einen relevanten Kanzlerkandidaten aufzustellen, die Grünen sind wichtig, aber eh immer in der Opposition, die FDP, die hatte man vor Christian Lindner schon abgeschrieben, und die Linken, ach, die alten Revoluzzer. Die Unterschiede zwischen den Parteien sind für mich immer mehr verschwommen. Ich hatte das Gefühl: Ist doch egal, was ich wähle. Ob ich wähle. Oder eben nicht.
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Ich kann nur für mich sprechen und muss sagen, dass mich die vergangenen zwei Jahre neu politisiert haben. Ich bin kein unpolitischer Mensch, aber ich war eingeschlafen.
Martina Kix
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Dann passierten zwei Dinge: Am Morgen des 23. Juni vergangenen Jahres bin ich aufgewacht und mein Freund hat mir die aktuellen Hochrechnungen des Brexit-Referendums vorgelesen. Es war gerade halb sieben. Ich hatte darauf vertraut, dass die Briten Europa genauso wichtig finden, wie ich. Ich wollte den ersten Hochrechnungen nicht glauben, ich dachte: Das ist bestimmt ein vorübergehendes Ergebnis, die haben noch nicht alle Stimmen ausgezahlt, die haben irgendwo einen Sack mit Briefumschlägen vergessen. Dann war es sieben Uhr. Plötzlich war klar: Eine Mehrheit, 51,89 Prozent der Wähler, möchte Europa verlassen. Ich begriff, dass es viele Menschen gibt, die Europa mögen, aber einen noch größeren Teil, dem es vielleicht nicht so gut geht wie mir. Dieses Europa, das für mich selbstverständlich war, mit all seinen Vorteilen, das wurde auf einmal in Frage gestellt.
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Den zweiten politischen Schock erfuhr ich in der Nacht, in der Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde. Ein paar Freunde und ich hatten eine WhatsApp-Gruppe und kommentierten die Hochrechnungen. Einer schrieb: „Scheiße, das kann doch nicht sein!“, ein anderer Kumpel „Fuck!!!“, später hieß es nur noch: „Was machen wir denn jetzt?“ Nach der Brexit-Entscheidung, nach der Wahl von Trump zum Präsidenten der USA gründete eine gute Bekannte von mir die Jugendbewegung DEMO mit einem Facebook-Posting. Sie traf ein Gefühl, eine Stimmung, die viele Menschen plötzlich teilten. Das große Ganze schien zum ersten Mal in Gefahr. Ich habe keinen Verein gegründet, keine Demokratie-Bewegung. Ich habe das gemacht, was ich immer mache: Ich habe geschrieben, über den Hype um Martin Schulz #Schulzzug, über eine der jüngsten Wahlfrauen in den USA, ich habe auf Podien darüber diskutiert, ob wir eine neue Studentenbewegung brauchen und bin in brandenburgische Dörfer gefahren.
Das wird nicht verhindern, dass die AfD an diesem Sonntag in den Bundestag einzieht. Aber wenn die AfD in den Bundestag einzieht, dann muss ich wenigsten hinterher nicht sagen, dass ich auf dem Sofa lag und Netflix geschaut habe. Ich möchte am Sonntag keinen Schock erleben wie beim Brexit und bei Trump, ich möchte zumindest vorbereitet sein. Denn es geht jetzt nicht um ein Land, in dem ich ab und an mal Ferien mache, sondern um meine Heimat. Darum, dass vielleicht bald Rechtsradikale im Bundestag Anträge stellen und diskutieren können. Ich habe keinen Einfluss darauf, wie viele Stimmen die AfD bekommen wird, aber immerhin schafft die finstere Aussicht, dass sie überhaupt eine nennenswerte Anzahl von Stimmen bekommt, das, was die beiden anderen politischen Schocks geschafft haben: Sie schafft es, Menschen zu mobilisieren, die eigentlich aufgegeben hatten, Menschen, die nicht wählen gehen wollten. Mich mobilisiert sie auch, meine Stimme abzugeben – aber für eine andere Partei und für unsere Demokratie.
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Ich möchte am Sonntag keinen Schock erleben wie beim Brexit und bei Trump, ich möchte zumindest vorbereitet sein. Denn es geht jetzt nicht um ein Land, in dem ich ab und an mal Ferien mache, sondern um meine Heimat.
Martina Kix
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