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Ich bin 29 Jahre alt, gebildet, gehe aber nicht wählen

Ich traue es mich fast gar nicht zu sagen, aber: Ich werde am Sonntag bei den Bundestagswahlen nicht wählen gehen. Für viele an sich bereits ein Schock, erst recht, wenn man bedenkt, dass ich eine 29-jährige, gebildete Frau mit Universitätsabschluss bin, die mitten im Leben steht, berufstätig ist, einen intellektuellen Freundeskreis hat und aus einem guten Elternhaus kommt.
Versteht mich nicht falsch, ich weiß sehr wohl, wie wichtig die Wahlen für unser Land sind, für jede*n einzelne*n von uns, für unser aller Zukunft, auch für meine. Ich weiß auch, dass von „jemandem wie mir” erwartet wird, wählen zu gehen.
Gefühlt jede*r in meinem Freundeskreis postet seit Wochen Fotos von sich, wie der Briefwahlumschlag in den Postbriefkasten geworfen wird. Auch bei Treffen mit meinen Freunden geht es früher oder später immer um Politik, welche Partei welchen Spitzenkandidaten oder welche Spitzenkandidatin aufgestellt hat, wer sich wie auf Social Media positioniert, wer was in welcher Talkshow-Runde im Fernsehen gesagt hat, wie Merkel und Schulz sich im TV-Duell schlugen, wo die Unterschiede bei den Wahlprogrammen der einzelnen Parteien sind, wer sich von der eigenen Freundesliste auf Facebook als AfD-Befürworter entpuppt und welchen Shitstorm er oder sie dafür kassiert hat.
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Ich weiß sehr wohl, wie wichtig die Wahlen für unser Land sind, für jede*n einzelne*n von uns, für unser aller Zukunft, auch für meine. Ich weiß auch, dass von „jemandem wie mir” erwartet wird, wählen zu gehen.

Seit Wochen geht es nur um die Wahl. Dazu gehört, wer mitdiskutieren kann. Und das mache ich auch. Es ist nicht so, als hätte ich keine Ahnung von Politik. Das stimmt so nicht. Auch ich habe mich über die Wahlprogramme informiert, habe Artikel und Videoausschnitte vom TV-Duell gelesen und gesehen und habe eine Meinung zur Flüchtlings-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik. Und doch habe ich weder die Briefwahl beantragt, noch werde ich am Sonntag eines der Wahllokale aufsuchen. Meinen Freunden sage ich das natürlich nicht, ich hätte Angst, dass ich ebenso mit Missachtung gestraft werde, wie die Facebook-AfD-Wähler, die sich outen. Nicht wählen ist absolut inakzeptabel in Zeiten wie diesen. Wir können uns immerhin glücklich schätzen, in einer Demokratie zu leben, in der wir mitbestimmen können, in welche Richtung unser Land regiert wird. Und wer das nicht nutzt, ist offensichtlich dumm – so der allgemeine Tenor, zumindest in meinem Bekanntenkreis.
Es gibt verschiedene Gründe, wieso ich nicht wählen gehe. Zum einen, weil mich keines der Wahlprogramme so überzeugend anspricht, dass ich für diese Partei ein Kreuz machen könnte. Irgendwie finde ich in fast jeder Partei gute Aspekte, die ich unterstützen würde, aber eben keine, die mich überwiegend begeistert. Und selbst wenn ich bei manchen Parteien einige Punkte richtig überzeugend finde, vertreten sie dann doch in anderen Punkte Ansichten, die ich absolut nicht teile. Wie kann ich also sagen, dass der eine Punkt wichtiger ist, als der andere? Bildung beispielsweise wichtiger als Rente? Das kann ich einfach nicht und das will ich auch nicht. Zum anderen, weil ich manchmal die Parteivorsitzenden unpassend finde, die Partei aber gut. Oder anders herum. Beispielsweise finde ich, dass Angela Merkel in den letzten Jahren einen richtig guten Job gemacht hat, mit der CDU kann ich mich dennoch nicht identifizieren. Schon eher mit der SPD, aber Schulz ist meiner Meinung nach viel zu lasch, um Kanzler zu sein. Da haben wir das Dilemma, erneut.

Nicht wählen ist absolut inakzeptabel in Zeiten wie diesen. [...] Ich selbst lege meine Zukunft also in die Hände anderer, in der Hoffnung, dass sie für mich und unser Land die richtige Entscheidung treffen werden.

Vielleicht traue ich mir selbst zu wenig zu und auch zu wenig darauf, dass meine Stimme wirklich einen Unterschied machen könnte. Ich weiß eigentlich, dass jede Stimme zählt, aber vielleicht weiß ich gar nicht, was meine Stimme sagen soll, wenn der Mund sich öffnet. Ich selbst lege meine Zukunft also in die Hände anderer, in der Hoffnung, dass sie für mich und unser Land die richtige Entscheidung treffen werden. Das mag komplett verwerflich sein, aber für mehr bin ich dieses Jahr noch nicht in der Lage. Ich selbst wünsche mir für mich, dass ich in vier Jahren den Mut und die Klarheit haben werde, mich für eine Partei zu entscheiden. Und bis dahin, dass andere das richtige für unser Land tun.

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