Die Verlobungssaison steht vor der Tür. Vielleicht hast du es selbst schon bemerkt: Jedes Jahr zwischen Weihnachten und Valentinstag scheint einige Paare die Hochzeitslust zu packen, und schon geht’s los – deine Uni-BFF, dein Cousin zweiten Grades oder die Eine aus der Schule, die du damals gehasst hast, der du aber trotzdem auf Instagram folgst, verlobt sich. Und natürlich landen dann auf Instagram entsprechende Fotos und Videos, die dokumentieren, wie ein Mann hochromantisch auf einem Knie um die Hand seiner Auserwählten anhält – zum Beispiel in einem verschneiten Park, auf einer mit Rosenblättern übersäten Dachterrasse oder auch auf einer Yacht auf dem Mittelmeer. Bei Heiratsanträgen scheint es nichts zu geben, was es nicht gibt. Dramatische Flashmobs oder intime Szenen im eigenen Bett – alles schon gesehen.
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Was du hingegen vermutlich eher nicht sehen wirst: eine Frau, die einen Ring hervorzieht und ihrem männlichen Partner die alles entscheidende Frage stellt.
Millennial-Frauen haben viele kulturelle Normen auf den Kopf gestellt: Wir heiraten später und bekommen immer später Kinder (wenn überhaupt). Eine Tradition, von der wir uns aber scheinbar einfach nicht verabschieden wollen, ist die, wer bei einem Antrag die große Frage stellen sollte.
Das hat aber tatsächlich plausible Gründe. Laut der Soziologie-Professorin Ellen Lamont von der Appalachian State University, die ein Buch über Gender-Normen und Beziehungen schreibt, haben Frauen einfach kaum eine Motivation, um diese Tradition über Bord zu werfen. „In anderen Lebensbereichen haben wir größere Anreize zur Veränderung“, erzählt Lamont gegenüber Refinery29. „Es hat zum Beispiel wirtschaftliche Vorteile für Frauen, eine eigene Karriere zu haben. Die meisten Frauen, mit denen ich gesprochen habe, betrachten die Tradition [dass der Mann den Antrag macht] als bedeutungslose Vorliebe, die sich nicht darauf auswirkt, wie selbstmächtig sie in anderen Lebensbereichen sind.“
Unsere Einstellungen verändern sich – aber nicht die Realität
Das Magazin Essence twitterte 2017 einen Artikel namens „3 ways to propose to your man this holiday season“ (z. Dt.: „3 Arten, deinem Freund zu dieser Feiertagssaison einen Antrag zu machen“). Die Antworten darauf demonstrieren, wie viele Frauen die Vorstellung empfinden, einem Mann einen Heiratsantrag zu machen. „Es gibt nur eine Art, einem Mann einen Antrag zu machen: Nie“, antwortete eine Frau ganz direkt.
Obwohl eine Glamour-Umfrage unter 500 Männern ergab, dass 70 Prozent der Männer kein Problem damit hätten, den Antrag von der Frau zu bekommen, zeigte eine Studie der Hochzeitsfirma The Knot, dass weniger als ein Prozent (nur 61 von 12.657) der teilnehmenden Bräute den Antrag gemacht hatten.
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„Heutzutage sind die Regeln einer Beziehung deutlich lockerer, aber wir merken immer noch, dass eine Traditionen Bestand haben“, erzählt Stacey Tasman Stahl, Gründerin von HowHeAsked – einer Website über Verlobungen. Aus den 15.000 Verlobungsgeschichten auf ihrer Seite kann sich Stahl nur an zwei erinnern, bei denen die Frau die Frage stellte. Das heißt aber wiederum nicht, dass die Frauen bei dem Prozess des Ganzen gar keine Rolle spielten. Tatsächlich ergab eine HowHeAsked-Umfrage, dass 97 Prozent der Teilnehmer:innen die Hochzeit schon vor der tatsächlichen Verlobung diskutiert hatten bzw. es tun würden.
„Ja, Männer halten sich immer noch an die Tradition, ihrer Freundin den Antrag zu machen – aber inzwischen haben die Frauen da auch mitzureden“, meint Stahl. Lamont unterstreicht das und erzählt, dass die Frauen, mit denen sie für ihre Studie sprach, „hinter den Kulissen“ stark bei der Verlobung mitspielten. „In Sachen Timing waren sie sehr aktiv beteiligt, aber das wird eben nicht öffentlich präsentiert“, sagt sie.
Bei Anträgen der Frauen geht es oft um Pragmatismus – und dafür kommt oft Kritik
Einigen jungen Frauen ging es bei ihren Anträgen nicht darum, der Tradition den Mittelfinger zu zeigen, sondern darum, was zu dem Zeitpunkt finanziell und für ihre jeweilige Beziehung Sinn machte. Die heute 27-jährige Alyssa Donovan machte ihrem Partner nach acht Jahren Beziehung einen Antrag, weil sie bald zu alt für die Familienversicherung ihrer Eltern sein würde.
„Ich stellte mir vor, mich vor ihm hinzuknien, ihm zu sagen, er mache mich zu einem besseren Menschen, und wie weit wir es zusammen gebracht hatten. Dann ging plötzlich die Tür auf und er kam mit unserem damaligen Mitbewohner rein. Deswegen zog ich nicht meinen eigentlichen Plan durch“, erzählt Alyssa. „Unser Mitbewohner verzog sich in sein Zimmer, also ging ich auf Jack zu und flüsterte ihm ins Ohr: ‚Kann ich dich für deine Versicherung heiraten?‘“
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Anfangs hatte sie Angst, Jack hätte dadurch womöglich das Gefühl, sie habe ihm „die Show gestohlen“, weil er wohl selbst auch mit der Idee gespielt hatte, ihr einen Antrag zu machen; er freute sich aber. Ihre beiden Familien hielten allerdings nicht viel von Alyssas Antrag, weil es keinen Ring gegeben hatte. „Es war albern, dass ich wegen meiner Eltern und des kulturellen Stigmas daran gezweifelt habe, ob das überhaupt ein Antrag war!“, ergänzt sie.
Halie*, die gerade ihrem jetzigen Verlobten den Antrag gemacht hat, erzählt, wie merkwürdig ihre Freundinnen reagierten, als sie laut überlegte, ihrem Freund einen Antrag zu machen. „Sie waren ein bisschen entsetzt, so in der Art: ‚Warum würdest du das machen?‘, oder: ‚Das ist echt eine merkwürdige Idee.‘ Danach war ich ganz vorsichtig damit, es überhaupt zu erwähnen, obwohl ich vor dem Antrag dann doch ein paar ausgewählte Leute um ihre Meinung gebeten habe. Von männlichen Freunden bekam ich keine negative Reaktion“, sagt sie.
Rachel Gersten erzählt, sie habe ihrem jetzigen Mann den Antrag gemacht, als sie sich beide gerade zum Ausgehen fertig machten und er unter der Dusche stand. „Wir sprachen über seine Tochter, und welche Rolle wir uns für mich in ihrem Leben vorstellte – und generell darüber, was wir zusammen erleben, sehen und sein wollten.“ Rachel meint, dass diese lockere Art der Verlobung für viele Leute echt eine Enttäuschung zu sein schien. „Fast alle reagierten irgendwie überrascht (und vielleicht enttäuscht?), dass wir keine bessere Story zu erzählen hatten. Bis heute habe ich den Eindruck, dass manche auf meinen märchenhaften Antrag warten und ein bisschen traurig sind, dass ich den nicht zu bieten habe“, meint sie.
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Millennials sind gar nicht so traditionsfeindlich, wie viele denken
Obwohl den Millennials dauernd vorgeworfen wird, ganze Industrien in den Ruin zu treiben, scheint die Hochzeitsbranche davon nicht betroffen zu sein. Hochzeitskosten sind häufig immer noch schwindelerregend hoch – und auch für geplante Anträge werden oft Hunderte von Euros ausgegeben.
Michele Velasquez, Mitbesitzerin der Veranstaltungsfirma The Heart Bandits, meint, dass vielen Leuten einfach die Tradition gefällt, dass ein Mann auf ein Knie runtergeht.
„Bei den 3.000 Verlobungen, die wir schon organisiert haben, hat nur zweimal eine Frau einem Mann einen Antrag gemacht“, erzählt Michele. „Ich glaube, das ist einfach eine kulturelle Tradition, die viele mögen und akzeptieren. Obwohl es sicherlich Ausnahmen gibt, werden viele Frauen immer noch gern ‚umworben‘ und bekommen gern einen Antrag.“
Velasquez glaubt anhand ihrer eigenen Erfahrungen, dass sich viele Männer „entmannt“ fühlen würde, wenn ihre Freundin den Antrag machen würde. „Andere haben den Eindruck, dadurch unter Druck gesetzt zu werden – dass ihre Partnerinnen nicht warten wollen, bis die Männer bereit sind“, ergänzt sie. Leider empfinden auch viele Frauen den weiblichen Antrag eher negativ. „So von jemandem auserwählt zu werden, steht für Liebenswürdigkeit und eine lebenslange Bindung“, schreibt Lamont in einem Paper namens Negotiating Courtship (z. Dt.: „Das Bewältigen des Umwerbens“). „Anstatt den durch die Frau initiierten Antrag als Ausdruck eines berechtigten Wunsches und als Ungewilltheit für Passivität zu betrachten, sehen ihn viele Frauen als peinlichen Beweis für die mangelnde Liebe des Partners oder die eigene Verzweiflung.“
Velasquez glaubt, dass auch Social Media beim traditionellen Bild des Antrags eine große Rolle spielt. „Social Media haben einen starken Einfluss darauf, wie Leute einen Antrag machen. Wenn du vor ein paar Jahren einen Antrag gemacht hast, hat davon meist nur der engste Kreis erfahren. Heute posten viele Paare den Antrag aber online, sodass er von unzähligen Leuten gesehen werden kann“, sagt sie.
Für Lamont ist diese Tradition zwar nicht „das wichtigste Thema der Welt“; sie glaubt aber dennoch, dass sie gewisse Stereotypen aufrechterhält, die uns in Sachen Gender und Beziehung bis heute prägen. „Die Tradition gehört zu einem System an Verhaltensweisen, die gewisse Überzeugungen rund um die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestärken“, meint sie. „Das überträgt sich dann in andere Lebensbereiche – wie in die Familie oder die Karriere.“
Für viele ist aber nichts dabei, die Tradition zu behalten und den Moment zu genießen. Und darum sollte es doch letztlich gehen: Hauptsache, beide Beteiligten fühlen sich mit dem Antrag wohl.