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Skin Hunger: Wie wirkt es sich auf die Psyche aus, wenn wir uns nicht berühren?

Photographed by Refinery29.
Menschen brauchen Berührungen.
Vor zweihundert Jahren fanden französische Wissenschaftler*innen ein komplett vereinsamtes Kind in einem Wald. Sie nannten ihn Victor. Er war verhaltensgestört und wurde zunächst für dumm gehalten. Doch später fand man heraus, dass das sogenannte Wolfskind einfach komplett anders als andere Jungen aufgewachsen war und deswegen zum Beispiel weder sprechen noch aufrecht gehen oder Emotionen zeigen konnte. Dass er für konventionelle Verhältnisse so unterentwickelt war, lag zum Teil auch am Mangel menschlicher Berührungen.
Ein Beispiel, das nicht ganz so weit in der Vergangenheit liegt, das aber ebenso zeigt, was passieren kann, wenn wir keinen Körperkontakt haben, stammt aus dem Jahr 1950. Harry Harlow führte damals Experimente mit Babyaffen durch. Sie wurden ihrer Mutter weggenommen und entweder zu einer “Ersatzmutter“ aus Drähten oder einer aus so Frotteestoff gegeben. Manchmal hatte die Drahtmutter das Essen, manchmal die Kuscheltiervariante. Man ging davon aus, dass die Affen immer von der Mutterfigur angezogen werden, die die Nahrung hat. Aber dem war nicht so. Ganz gleich, ob sie nun Futter hatte oder nicht, bevorzugten die Affenbabys immer die Mutter, die sich umarmen und kuscheln konnten. Laut Psychological Science brachten die Studien „wegweisende empirische Belege für die Vorherrschaft der Mutter-Kind-Bindung und der Bedeutung der mütterlichen Berührung auf die frühkindliche Entwicklung“.
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Okay, Berührungen sind also wichtig für Kinder in der Entwicklungsphase. Aber wie sieht es mit Erwachsenen aus? Brauchen die wirklich so dringend Berührungen?
Ja. Auch, wenn der Berührungsbedarf mit steigendem Alter weniger wichtig für die emotionale Entwicklung ist, verschwindet er dennoch nicht komplett. So gibt es beispielsweise Anzeichen, die darauf hindeuten, dass weniger Körperkontakt zu einem steigenden Aggressionspotential führen kann.
Eine Studie untersuchte die Häufigkeit freundschaftlicher Berührungen zwischen Freund*innen in Frankreich und in den USA. Das Ergebnis: Französische Teenager berührten sich 110 Mal innerhalb von 30 Minuten (sie umarmten sich, klopften sich auf die Schultern etc.). Die amerikanischen Kids hatten dagegen nur zwei Mal in einer halben Stunde Körperkontakt, aber es war nicht so, dass sie einfach weniger Verlangen danach hatten. Statt ihre Freund*innen zu berühren zappelten sie beispielsweise mehr herum, verschränkten die Arme häufiger und ließen ihre Knöchel knacken. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Gewaltbereitschaft bei sogenannten “High-Touch Cultures“ – also bei Kulturen, in denen sich die Menschen im Schnitt häufiger berühren – relativ niedrig ist. Dagegen ist die Gewalttätigkeit unter Jugendlichen und Erwachsenen bei “Low-Touch Cultures“ extrem hoch. Oder anders gesagt: Wenn sich die Menschen nicht so oft freundschaftlich und sanft berühren, ist das Risiko höher, dass der Körperkontakt irgendwann härter ausfällt und sie sich beispielsweise direkt schlagen, statt zu diskutieren.
Das gilt übrigens auch bei den Primaten. Schimpansen lausen sich nicht nur gegenseitig, um sich sauber zu halten, sondern auch, um eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Es wurde auch beobachtet, dass sich Schimpansen, die gegenseitige Fellpflege betreiben auch Futter teilen – auch, wenn sie nicht verwandt sind.
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Außerdem wurde herausgefunden, dass Berührungen, und zwar selbst ein einfaches Händeschüsseln, das Stresslevel reduzieren, Vertrauen schaffen und Freundschaften bekräftigen kann. Es kann sogar Menschen dabei unterstützen, mehr Erfolg zu haben. Bei einer Studie der NBA wurde herausgefunden, dass Teams häufiger gewinnen, bei denen sich die Mitglieder vor dem Spiel berühren (Umarmungen, High Fives, Fist Bumps).
Überraschend ist das nicht, wenn man bedenkt, dass Berührungen den Cortisolspiegel senken und damit auch das Stresslevel. Und das ist wiederum auch ein Grund dafür, warum viele Menschen instinktiv die Hand einer anderen Person halten wollen, wenn sie Angst haben. Außerdem erklärt das, warum Händeschütteln vor einem wichtigen Meeting oder einer Präsentation eine gute Idee ist. Apropos Händeschütteln: Das hat sich übrigens etabliert, weil die Menschen damals zeigen wollten, dass sie keine Waffe tragen. Diese Art der Berührung hat also sehr viel mit dem Thema Sicherheit zu tun. Schon verrückt, was eine einfache Geste alles aussagen und bewirken kann, oder?
Welch eine Ironie, dass wir gerade jetzt, wo wir so viele stressreduzierenden Hilfsmittel brauchen wie möglich, auf Abstand zueinander gehen müssen und uns nicht mehr berühren dürfen. Wir können niemandem ein High Five geben, geschweige denn umarmen, es sei denn sie oder er wohnt in unserem Haushalt. Selbst ein einfacher Handschlag, der sich vor Corona extrem formell angefühlt hat, wirkt jetzt unglaublich zärtlich. Ich frage mich, ob sich das nach der Pandemie wieder ändern wird oder ob wir langfristig gesehen darauf achten werden, weniger Körperkontakt zu haben. Dr. Anthony Fauci wäre beispielsweise letztere Variante lieber, denn er sagt, „in einer perfekten Welt würden die Amerikaner*innen damit aufhören, sich die Hände zu schütteln“.
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Und er ist nicht der Einzige, der das so sieht. Abgesehen davon gibt es ja auch Kulturen, die sich ohnehin nicht zur Begrüßung die Hand geben. Doch das heißt nicht, dass Berührungen in diesen Ländern nicht genauso wichtig sind wie bei uns. In Japan begrüßt man Freund*innen beispielsweise oft mit einer Verbeugung oder man winkt sich zu. Aber auf der anderen Seite gibt es auch sogenannte “Kuschel-Cafés”, in denen man sich umarmen und halten lassen kann. Laut Japan Info dienen diese Cafés dazu, mit einer warmen Umarmung Stress und Ängste abzubauen. „Der Service ist besonders bei Personen sehr beliebt, die in Büros arbeiten und die das Bedürfnis haben, getröstet zu werden.“
Menschen, die nur selten berührt werden, sehen sich danach – unabhängig von ihrer Kultur und ihrem Alter. So heißt es im Tokyo Weekender beispielsweise, dass es in manchen Altersheimen Roboter in Form von Kuscheltierroben für Bewohner*innen gibt, die keinen oder nur wenig menschliche Berührungen erfahren.
Wir sehnen uns nach Berührungen, weil es ein Grundbaustein des menschlichen Seins ist. Auf der anderen Seite hat Dr. Fauci natürlich recht, dass dadurch Krankheiten übertragen werden können. Selbst nach Ende der Pandemie könnte es also eventuell hilfreich sein, sich weniger oft die Hände zu geben, um beispielsweise die Ausbreitung der Grippe im Winter einzudämmen. Es gibt sicher viele Menschen, die sich darüber freuen würden, den Körperkontakt zu anderen minimieren zu können; andere stellen dagegen gerade jetzt fest, wie wichtig der regelmäßige physische Kontakt zu anderen ist.
In Deutschland lebt jede*r Fünfte allein. Diese 17,3 Millionen Menschen müssen es also schon seit mehreren Wochen ohne Berührungen aushalten – sofern sie sich an die Corona-Maßnahmen halten. Falls du zu ihnen zählst und gerade allein zuhause sitzt, vermisst du bestimmt auch, deine Freund*innen zu umarmen oder deine kleine Nichte in den Armen zu halten. Und wahrscheinlich wirkt sich das auch auf deine Stimmung aus. Das Phänomen nennt sich “Touch Starvation“ oder “Skin Hunger“ und kann Depressionen, Angstzustände und Schlaflosigkeit bewirken. Manchmal versuchen Menschen, dem entgegenzuwirken, indem sie versuchen, das Gefühl einer Berührung nachzuahmen. Sie nehmen zum Beispiel ein langes Schaumbad oder wickeln sich in eine Decke ein.
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Wenn du allein wohnst und es dir in der Selbst-Isolation schwerfällt, produktiv zu sein, liegt es also wahrscheinlich nicht daran, dass du zu faul bist. Wahrscheinlich leidest du an Touch Starvation.
Ohne, dass wir es bemerken wirken sich Berührungen oft auf unsere Stimmung aus. Das heißt aber natürlich nicht, dass du jetzt mitten in der Pandemie auf die Straße gehen und fremden Menschen über die Wange streicheln sollst. Es heißt einfach nur, dass es vollkommen normal ist, wenn du gerade ausgelaugt und antriebslos fühlst. Das ist absolut menschlich und verständlich. Aber mach dir bewusst: So allein du dich aktuell auch fühlen magst, du bist es nicht.
Eine mögliche Lösung könnte sein, sich jetzt ein Haustier zuzulegen. Zugegeben: So cool wie eine flauschige Roboterrobbe ist der Dackel zwar vielleicht nicht, aber ich bin mir sicher, dass sich das Tierheim bei dir um die Ecke freut, wenn du ihn trotzdem adoptierst.
So vernünftig der Verzicht auf Körperkontakt auf unbestimmte Zeit aus praktischer Sicht auch sein mag, ich denke, sobald es einen Impfstoff gibt wird der erste Impuls vieler Menschen sein, alle ihre Lieben zu umarmen. Es wird schwer sein, sie davon abzuhalten. Aber ich hoffe, dass wir bis dahin wenigstens alle gelernt haben, uns ordentlich die Hände zu waschen.

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