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Seit ich versehentlich einen Mann tötete, jagt mich mein Gewissen

Foto: Kristina Buramenskau00e2/EyeEm.
Triggerwarnung: Einige Leser*innen könnte der folgende Artikel erschüttern.
Obwohl es schon acht Jahre her ist, muss ich immer noch jeden Tag daran denken. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich diesem einen Gedanken mehrere Stunden nachhänge. Wenn du jemanden getötet hast, verändert sich dein Leben für immer.
Es passierte an einem sonnigen Nachmittag Ende März. Für die Jahreszeit war es schon viel zu warm – einer dieser Vorboten auf den heißen Sommer, der folgen sollte. Ich war 28 Jahre alt und hatte fünf Monate zuvor mein erstes Kind, eine Tochter, zur Welt gebracht. Nach der ersten, schlaflosen Zeit gewöhnten wir uns langsam an den neuen Alltag miteinander und ich arrangierte mich ziemlich gut mit dem Gedanken, nun Mutter zu sein. Da es Mittwochnachmittag war, war mein Mann bei der Arbeit. Ich entschloss mich, bei dem schönen Wetter noch einmal aus dem Haus zu gehen, um einige Zutaten fürs Abendessen zu besorgen. Ich hatte zwar genug im Haus, wollte aber mit meiner Tochter zusammen noch ein bisschen das warme Wetter genießen.
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Was dann geschah, kann ich nur schwer beschreiben. Vielleicht versucht mein Gehirn so damit umzugehen, aber ich weiß tatsächlich nicht mehr viel von diesem Vorfall. Die Sonne stand tief am Himmel und ich weiß noch, dass sie so geblendet hat, dass ich die Blende herunter- und den Rückspiegel umklappen musste. Ich erinnere mich daran, wie ich hart abbremste, wie ein Körper gegen meine Windschutzscheibe knallte, wie der Aufprall im Auto widerhallte, das Geräusch zerbrechenden Glases, und wie kurz danach jemand anfing, wie am Spieß zu schreien. Ich musste erkennen, dass ich das war. Ich hatte einen Fußgänger angefahren, der gerade die Straße überqueren wollte.
Die Zeit danach fühlt sich an wie aus einem Horrorfilm. Ich drehte mich um, um mich zu vergewissern, dass es meiner Tochter im Kindersitz hinter mir gut ginge. Dann stieg ich aus und sah den Mann auf dem Boden liegen. Alles, woran ich mich erinnere, ist graues Haar und jede Menge Blut. Um das Auto herum standen einige Menschen, und einige von ihnen hatten sich schon zu dem Mann gebeugt. Obwohl viele Autos und Personen vor Ort gewesen sein müssen, erinnere ich mich an keine Geräusche.
Es kann nur einige Sekunden später gewesen sein, da kam eine Frau auf mich zu und nahm mich am Arm. Sie führte mich zu meiner Tochter und sagte mir, ich solle sie aus dem Auto holen. Dann ging sie mit mir weg vom Unfallort. Es kam mir so vor, als würde ich einen Film über mein Leben sehen. Nichts schien wirklich real zu sein. Ich konnte nichts hören als das Rauschen in meinem Kopf, als würde ihn jemand unter Wasser drücken.
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Mir kam es so vor, als wäre der Krankenwagen innerhalb von Sekunden angekommen. Ich fragte die Rettungssanitäter immer und immer wieder, wie es dem Mann ginge, erinnere mich aber nicht an die Antwort. Einer von ihnen nahm meine Tochter und mich beiseite und setzte sich mit uns in einen Rettungswagen. Der Sanitäter half mir dabei, meinen Mann anzurufen. Ich wusste nicht, wie ich ihm sagen sollte, was gerade passiert war. Seinen Gesichtsausdruck, als er wenig später am Unfallort ankam, werde ich nie vergessen: eine Mischung aus Trauer und Mitgefühl.
Der Mann, den ich angefahren habe, wurde noch an Ort und Stelle für tot erklärt. Ich fühlte mich vollkommen leer und zerstört. Bevor mein Mann meine Tochter und mich nach Hause brachte, redete er mit der Polizei. Zu Hause angekommen, setzte ich mich wimmernd auf einen Küchenstuhl. Es war unmöglich, meine Verzweiflung vor meinem Kind zu verbergen. Meine Schwester kam vorbei, um sich um unsere Tochter zu kümmern, während mein Mann mich zur Polizei brachte. Ich musste immer noch eine Aussage machen. Die Polizeibeamt*innen behandelten mich so freundlich, wie ich es meiner Meinung nach gar nicht verdient hatte. Trotzdem stellten sie mir derart detaillierte Fragen, dass es mir unmöglich war, darauf zu antworten. Alles, woran ich mich erinnerte, war, wie ich dort saß und immer und immer wieder sagte, dass der Unfall meine Schuld war. Außerdem stellte ich jede Menge Fragen über den Mann, den ich getötet hatte.
Die Polizei verhängte mir ein vorläufiges Fahrverbot und schickten mich wieder nach Hause. Dort kam eine tiefe Verzweiflung über mich, die mich komplett einschloss. Hinter mein bisheriges Leben war ein Punkt gesetzt worden. Nichts würde jemals wieder so werden können wie zuvor. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, dass ich jemandem das Leben genommen hatte. Wegen mir durchlitt die Familie des Mannes nun unendlich viel Schmerz.
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An die Tage danach erinnere ich mich nur verschwommen. Entweder habe ich geweint oder ich saß apathisch in der Ecke. Mein Mann übernahm die gesamte Arbeit. Nur meine Familie und meine beste Freundin waren in dieser Zeit um mich herum. Alle anderen machten einen großen Bogen um mich, und das kann ich niemandem verübeln.
Die Dunkelheit, die mich überkam, überzeugte mich schlussendlich davon, dass ich kein Recht mehr hätte, zu leben. Ich hätte alles dafür gegeben, an Stelle des Mannes gestorben zu sein. Die Story war in der Zeitung und online zu lesen, und es machte mich krank, meinen eigenen Namen in den Artikeln zu finden. Trotzdem las ich alles, was ich in die Finger bekommen konnte, weil ich mehr über den Mann wissen wollte, den ich umgebracht hatte. Er war Mitte Siebzig und hinterließ eine Frau, zwei Kinder und einige Enkel.
Einige Wochen später bekannte ich mich schuldig, einen Menschen wegen gefährlichen Fahrverhaltens umgebracht zu haben. Ich hatte weder getrunken, noch war ich zu schnell gefahren und die Lichtverhältnisse waren schwierig gewesen. Doch ich wollte bestraft werden. Ich wünschte mir, eine Gefängnisstrafe verbüßen zu müssen, auch wenn der Gedanke, getrennt von meinem Mann und meiner Tochter zu leben, mich halb auffraß.
Die Richterin sagte bei der Verhandlung jedoch, dass eine Gefängnisstrafe nicht angemessen sei. Erstens, weil die Fahrbedingungen an dem Tag schwierig gewesen waren, zweitens, weil ich ein Baby hatte. Wo andere wahrscheinlich Erleichterung verspürt hätten, machte sich in mir eine neue Welle der Schuld breit. Kein Urteil dieser Welt konnte die Schuld von mir nehmen und mein Leben fühlte sich schlimmer an als jede Gefängnisstrafe.
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Ich konnte nicht aufhören, mich zu fragen, wie es zu diesem Unfall hatte kommen können. Zwar glaube ich nicht an Gott, aber monatelang war ich überzeugt davon, dass das, was passiert war, mit Karma zu tun hatte. Ich musste irgendetwas Schlimmes getan haben und sollte nun durch diesen Unfall dafür büßen. Nach dem Vorfall wollte ich unbedingt mit der Familie des Toten in Kontakt treten, aber mir wurde bewusst, dass das wahrscheinlich in erster Linie aus egoistischen Motiven passierte.
Seit dem Unfall gehe ich einmal die Woche zur Therapie. Das hat mir ungemein dabei geholfen, das Trauma zu verarbeiten und mein Bild von Schuld und Verantwortung gerade zu rücken. Aber auch nach acht Jahren wird mein Leben immer noch von diesem einen Tag überschattet. Oft stelle ich mir vor, wie auf meinem Grabstein nur stehen wird: „Als sie 28 Jahre alt war, tötete sie einen Mann“.
Ich habe noch niemanden getroffen, dem das gleiche passiert ist wie mir. Nur online habe ich ähnliche Geschichten von Menschen gelesen, die auch aus Versehen jemanden schwer verletzt oder getötet haben, und das hat mir geholfen zu verstehen, dass ich nicht allein bin. Trotzdem habe ich immer noch zu viel Angst, meinen eigenen Namen zu googeln, weil ich befürchte, dass dort nur Artikel über den Unfall auftauchen. Wahrscheinlich werde ich das nie wieder können.
Einige Jahre nach dem Unfall sind wir in eine ländlichere Gegend gezogen. Deswegen fahre ich mittlerweile auch wieder Auto, wobei mich die Angst vor dem Fahren bei Dunkelheit oder sonnigem Wetter immer noch übermannt und ich dann hinter kein Lenkrad steigen kann.
Die Schuld, die ich immer noch spüre, ist nicht mit Worten zu beschreiben. Doch was auch immer mir durch das Trauma genommen wurde, es ist nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den die Familie des Opfers aushalten muss. Und ich weiß tief in mir drin, dass ich nie wieder inneren Frieden erlangen werde.

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