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Das Schlimmste in Unser Vater – Dr. Cline sind nicht die Taten selbst

Foto: bereitgestellt von Netflix.
Netflix’ neueste True-Crime-Dokumentation Unser Vater – Dr. Cline hat viele verstörende Szenen; tatsächlich liefert uns die Doku im Laufe ihrer 90 Minuten zahlreiche Horrormomente. Zuallererst wäre da Jacoba Ballards gruselige Entdeckung, dass sie in Wahrheit vom Kinderwunscharzt ihrer Mutter gezeugt wurde, der während der 1980er zahlreiche seiner Patientinnen schwängerte – ohne deren Wissen oder Einverständnis. Dann wäre da noch das schiere Ausmaß von Dr. Clines Verbrechen: Bis heute hat Ballard 94 Halbgeschwister, und es werden immer mehr, alles motiviert von einem bizarren Motiv des Arztes. Die wohl erschreckendste Enthüllung der Doku ist aber wohl das Wissen, dass seine Taten genau genommen gar nicht illegal waren, während er sie beging.
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„Was brachte ihn dazu, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, zu masturbieren und [das Sperma] in nichtsahnende Frauen zu injizieren, ohne deren Einverständnis?“, fragt Ballard uns, das Publikum, und ist von den Worten selbst sichtbar angewidert. Der „Er“, um den es hier geht, ist Donald Cline, ein berühmter Fruchtbarkeitsexperte aus Indianapolis und ein angesehener Mann, sowohl in seiner Stadt als auch seiner Kirche, den Ballard 2014 als ihren Vater identifizierte, nachdem alle Indizien in seine Richtung zu weisen schienen. 
Foto: bereitgestellt von Netflix.
Ballard wuchs als Einzelkind auf. Sie war durch eine Samenspende gezeugt worden und schon immer neugierig gewesen, ob da draußen irgendwelche Geschwister von ihr lebten. Also meldete sie sich bei 23andMe an, einem DNA-Test-Service, der Stammbäume erstellt. Sie rechnete damit, womöglich drei potenzielle Geschwister zu entdecken; der Arzt hatte ihrer Mutter damals versichert, jeder Samenspender käme aus offensichtlichen Gründen nur dreimal zum Einsatz. Warum tauchten in ihrem 23andMe-Ergebnis dann jetzt trotzdem zehn Geschwister und 3.000 „Nahe Verwandtschaft“-Treffer in einem kleinen Radius auf? Nach einiger Recherche fand sie für sie alle einen gemeinsamen Nenner: Dr. Cline. Und je weiter sie nachforschte, desto mehr wurde ihre Suche nach Geschwistern zum absoluten Albtraum.
Es stellte sich heraus, dass Dr. Cline über Jahrzehnte hinweg in seiner Klinik sämtliche Samenspenden zerstört hatte – sowohl von Samenspendern als auch von den Partnern oder Ehemännern der jeweiligen Patientinnen. Dann, wenn die Frauen in einer verletzlichen Position in seinem Behandlungsraum lagen – mit den Füßen in den Steigbügeln des Behandlungsstuhls, untenrum nackt –, masturbierte er im Nebenzimmer und injizierte daraufhin sein eigenes Sperma in die Frauen.
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So weit, so verstörend; sein Motiv setzt dem Ganzen allerdings noch die Krone auf. Es kam heraus, dass Cline in seiner Gemeinde als Kirchenältester tätig war und religiös-fanatische Tendenzen hatte. Vermutlich wurden seine Taten durch kultähnliche Überzeugungen der weißen Überlegenheit motiviert, die ihn dazu brachten, „Gott zu spielen“ und so viele Kinder wie möglich zu zeugen.
Foto: bereitgestellt von Netflix.
Aber es wird noch schlimmer. Einige der Geschwister wohnten im selben 40-Kilometer-Radius. Kein Wunder also, dass sich unter ihnen die Angst breit machte, sie könnten womöglich mal die eigenen Halbgeschwister gedatet haben – oder mit diesen sogar eine Familie gegründet haben. In der Doku erzählen außerdem einige verzweifelte Väter davon, wie es war, Jahrzehnte später herauszufinden, dass das vermeintlich eigene Kind gar nicht wirklich mit ihnen verwandt ist. Noch dazu teilen viele der Geschwister diverse Autoimmunkrankheiten, die sie wohl von Cline geerbt haben – genetische Erkrankungen, die in einem „echten“ Samenspender sicherlich identifiziert worden wären und dazu geführt hätten, dass die Spende gar nicht erst injiziert wurde. Kurz gesagt zerstörte Cline das Vertrauen seiner Patientinnen in so vieler Hinsicht.
„Ich wurde 15-mal vergewaltigt und wusste es nicht mal“, erzählt eine der betrogenen Mütter gegenüber der Kamera. Es ist das erste Mal, dass das Wort in der Dokumentation erwähnt wird – obwohl es Clines Taten zweifellos exakt beschreibt. Dennoch bot das Justizsystem diesen Frauen keinerlei Schutz und zögerte sogar davor, Clines Taten überhaupt als sexuellen Missbrauch einzustufen. Nach diversen Untersuchungen und einer Anhörung vor Gericht entging Cline einer Haftstrafe sogar komplett. Stattdessen wurde er zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt, nachdem er sich der Rechtsbehinderung schuldig bekannt hatte. In anderen Worten: Er wurde nie für seine Verbrechen bestraft – nur dafür, dass er zuerst geleugnet hatte, sie überhaupt begangen zu haben.
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2018 wurden die Mühen der betroffenen Mütter und Töchter schließlich doch ein wenig belohnt: Im Bundesstaat Indiana trat ein Gesetz in Kraft, das unerlaubte Sameninjektionen für rechtswidrig erklärt. Die Dokumentation betont daraufhin, dass es dennoch erschreckenderweise bisher kein landesweites Gesetz gegen solche Injektionen gibt – vermutlich wegen der vermeintlich seltenen und unwahrscheinlichen Umstände dieses Falls. Am Ende der Dokumentation folgt allerdings noch eine weitere unangenehme Überraschung: „Dank DNA-Tests für zu Hause wurden 44 weitere Ärzte identifiziert, die ihr eigenes Sperma verwendet haben, um Kinderwunschpatientinnen zu schwängern.“ Das ist eine ekelhaft hohe Zahl, die die Frage aufwirft, wie viele weitere solcher Fälle es wohl gibt.
Und diese Fälle beschränken sich nicht bloß auf die Vereinigten Staaten. Ein besonders verstörender Fall war der der Barton-Klinik in London, in der der britische Biologe Dr. Bertold Wiesner von den 1940ern bis in die 1960er sein eigenes Sperma zur Befruchtung verwendete. Die Barton-Klinik war eine der ersten in England, die eine Samenspende-Injektion anboten. Jahrzehnte später kam durch genetische Untersuchungen zum Vorschein, dass rund zwei Drittel der etwa 1.500 in der Klinik gezeugten Babys Dr. Wiesners biologische Kinder waren. 
Auch in Deutschland gab es schon ähnliche Fälle, zum Beispiel den von Thomas Katzorke, langjähriger Leiter der Essener Fruchtbarkeitsklinik und angesehener Reproduktionsmediziner. Nachdem er von mehreren Spenderkindern angeklagt worden war, weil er keine Unterlagen zu ihren jeweiligen Samenspendern herausgeben wollte und behauptete, die Unterlagen seien „vernichtet“, kam heraus: Eines der Spenderkinder, die ihn angeklagt hatten, war seines. Hier standen sich also Vater und Kind im Gericht gegenüber. 2019 räumte Katzorke dann ein, er habe „zwei-, dreimal“ sein eigenes Sperma in der Klinik verwendet.
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Heutzutage ist so etwas kaum noch denkbar. Einerseits wird Spendersperma seit Ende der 80er in Deutschland immer eingefroren und sechs Monate lang gelagert, bevor es injiziert wird; andererseits sind heute am gesamten Prozess so viele Menschen beteiligt, dass die Verwendung von eigenem Sperma wahrscheinlich nicht unbemerkt bleiben würde. Zusätzlich ist seit 2018 das „Gesetz zur Regelung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung bei heterologer Verwendung von Samen“ in Kraft – kurz: „Samenspenderregistergesetz“ –, das Melde- und Dokumentationspflichten zur Identität von Samenspendern enthält, damit Spenderkinder von ihrem Recht Gebrauch machen können, „zu erfahren, von wem [sie] [abstammen]“. 
Das Timing von Unser Vater – Dr. Cline könnte tragischer nicht sein; schließlich erscheint die Doku genau zu dem Zeitpunkt, an dem das Recht auf Abtreibung in den USA umstritten ist wie vielleicht nie zuvor. Letztlich besteht kein Zweifel daran, dass die Kontrolle über den eigenen Körper ein wichtiger Teil der Kontrolle über das eigene Leben ist. Uns als Zuschauer:innen der Dokumentation kommt es vielleicht währenddessen manchmal so vor, als könne es zu solchen Extremfällen heute gar nicht mehr kommen – aber allein die Milde von Clines Strafe sollte uns zeigen, dass wir vielerorts noch immer in einem System der Unterdrückung leben, das Männern und Menschen in Machtpositionen enorme Kontrolle über die Körper von Frauen und gebärfähigen Menschen gewährt. 
Unser Vater – Dr. Cline ist zum Streamen auf Netflix verfügbar.

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