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„The Purge“ auf der Theresienwiese: Kann ich als Feministin* guten Gewissens zur Wiesn?

Die Wiesn. Ja was ist das eigentlich? Für alle Nicht-Bayer*innen: das ist der einheimische Begriff fürs Oktoberfest. Noch nie gehört? Verständlich. Das ist so ein Festival... nee nicht so richtig wie die ‚Fusion‘, aber auch ziemlich groß. So ein Bierfest halt. Da kommen superviele Menschen, verkleiden sich und wollen Party machen. Vielleicht doch gar nicht so anders als die Fusion? Der Vergleich hinkt, schon allein weil die Fusion nicht-kommerziell und explizit politisch links ist und die Wiesn jedes Jahr eine Milliarde Euro Umsatz macht.
Aber grundsätzlich mal ist die Wiesn wie jedes andere Festival ein Ort, der Leute dazu einlädt, ihren Alltag zu vergessen, Spaß zu haben, sich Exzessen hinzugeben, Achterbahn zu fahren, zu flirten, zu daten, sich sexuell auszuleben, zu tanzen, mit Freund*innen zu genießen; nur halt mit Heimat- und Trachtentick. Auf der Bierbank tummeln sich die unterschiedlichsten Menschen, vom australischen Touristen über Familien bis zu oberländischen Verlagskolleginnen. Es ist ganz normal als Münchner Unternehmen oder Institution mindestens einmal auf die Wiesn zu gehen und sich gemeinsam zu betrinken. Das, was in anderen Städten die Weihnachtsfeier ist, ist in München die Wiesn. Da grölst du dann eventuell mit deiner Chefin Arm in Arm zu Bryan Adams und ihr versucht nicht von der Bierbank zu fallen. Kann lustig sein.
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Auf der Wiesn, so wie auf anderen Festivals auch, werden gesellschaftliche Regeln und Hierarchien aufgeweicht, manche Regeln gelten einfach gar nicht mehr. Und so soll es sein. Solche Orte muss es geben. Heterotopie nennt der französischer Philosop Foucault das. Ein Ort, der die Gesellschaft im Kleinen widerspiegelt oder einen Gegenpol zu ihr aufbaut, an dem Dinge geschehen können, die sonst im Alltag so nicht möglich sind.

Selten spielen sich vermeintliche Tradition, Kapitalismus, Machotum und Patriotismus selten so erfolgreich in die Hände wie auf der Wiesn.

Die Frage ist nur, für wen ist diese Heterotopie gemacht? Wer schafft sich da einen Ort, an dem er*sie sich austoben und die Sau rauslassen kann? Die aktuellen Polizeiberichte und diese Nachrichten geben da zu denken: BR schreibt „Mehrere sexuelle Übergriffe auf dem Oktoberfest“, Ostseezeitung meldet „Finnische Wiesn-Besucherin in Busch vergewaltigt“, Vice titelt mit „Zwei Männer bedrängen eine Frau, zwei andere fotografieren unter den Rock“. Die Wiesn hatte zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Artikel gerade mal zwei Tage geöffnet.
Das kann eine Heterotopie laut Foucault nämlich auch: Gesellschaftliche Machtstrukturen in geballter Form zu Tage bringen. Auf der Wiesn sind es Sexismus, Homophobie und Rassismus, die sich noch offener und ungehemmter als sonst beobachten und erfahren lassen. Auch an anderen Orten, an denen Drogen und Alkohol im Spiel sind, kommt es häufiger zu Übergriffen als im Alltag. Klar, im Club, auf Festivals, eben wenn alle betrunken und in Menschenmassen sind. Jedoch spielen sich vermeintliche Tradition, Kapitalismus, Machotum und Patriotismus selten so erfolgreich in die Hände wie auf der Wiesn.

Es ist, als würde auf der Theresienwiese plötzlich alles, was sonst mittlerweile ansatzweise als übergriffig erkannt wird, wieder total ok.

Es fängt mit Kleinigkeiten an: der Tracht natürlich, an der Frauen* ihren Verfügbarkeitsstatus über ihre Schürzenschleife angeben sollen und somit klar ist, wer hier traditioneller Weise wen anmachen sollte. Es geht weiter mit blöden Scherzen über ‚Hoiz vor der Hüttn‘, über die Verharmlosung von Grapschen (was übrigens erst seit zwei Jahren eine Straftat ist), bis hin zu k.o.-Tropfen. Es ist, als würde auf der Theresienwiese plötzlich alles, was sonst mittlerweile ansatzweise als übergriffig erkannt wird, wieder total ok. Wiesn halt. Eine Art bayrischer ‚The Purge‘, ein Film, in dem jedes Jahr ein Tag ausgerufen wird, an dem alle Straftaten legal sind).
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Penelope Kemekenidou vom feministischen Verein Gender Equality e.V. drückt es so aus: „Wo man sonst "unsere Frauen schützen" schreit, wird der (besoffene) Bayer der Frauen* sexuell belästigt, auch gerne mal von Medien als "Bub" bezeichnet, der wegen nem "Grapscher" nun Probleme bekommt. Verhalten, das bei anderen als Beweis der bestehenden patriarchalen Machtstrukturen in "deren"Kultur ausgelegt wird, ist "bei uns" eben ein Spaß, den Frau* mal wieder viel zu persönlich genommen hat.“
Vor zwei Jahren hatte die Feministin Anne Wizorek einen Vergleich zwischen den Belästigungen auf der Wiesn und der Sylvesternacht in Köln gezogen und dafür viel Kritik geerntet. Vor allem ihre Nennung einer Dunkelziffer von 200 sexuellen Übergriffen auf der Wiesn wurde als Lüge bezeichnet. Es mag sein, dass diese Zahl keinerlei statistische Referenz hat und der Vergleich nicht ganz aufgeht. Aber wer als Frau* die Wiesn besucht hat, weiß, dass Grapschen und blöd angemacht werden einfach an die Tagesordnung gehören. Deshalb scheint mir diese Zahl nicht sehr weit hergeholt in Anbetracht der Tatsache, dass jedes Jahr um die 6 Millionen Besucher*innen die Bierzelte einrennen. Dabei geht es eben oft um die aus Versehen mal an den Hintern gekommenen Hände oder das einfach so auf den Schoß gezogen werden oder aus heiterem Himmel geküsst werden mit Bierfahne und nicht nur um tatsächlich angezeigte Übergriffe.

Dass mit Sexyness Scheiß verkauft wird, funktioniert auf der Wiesn und spricht schon Bände über die Einstellung vieler Besucher*innen.

Die feministische Performerin Mona Vojacek Koper verhandelt in ihrem Stück ‚Sorry Not Sorry‘ die Objektifizierung von Frauenkörpern und hat sich zu Recherchezwecken für ihr Stück zehn Tage lang als Promilla auf der Wiesn einstellen lassen. Promilla? Ach ja, das sind Frauen, die von der Firma Bavaroi dafür angeheuert werden in knappen Dirndln betrunkenen Wiesnzelt-Besucher*innen Alkoholtests zu verkaufen. Es gibt auch noch Mamarazzis (Fotos von betrunkenen Menschen im Bierzelt machen und dann versuchen sie in Papprahmen zu verkaufen) und Schatzis (überteuerten Ramsch als Souvenir verkaufen). Die Idee ist: Eigentlich kaufe ich diesen Scheiß nur, weil du ein sexy Dirndl anhast. Dass das funktioniert und als Geschäftsmodell auf der Wiesn akzeptiert wird spricht schon Bände über die Einstellung vieler Besucher*innen.
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Auch ich habe als 18-Jährige mit zwei Freundinnen im pinken Dirndl als Mamarazzi auf der Wiesn gearbeitet. Ich dachte, als ich den Job annahm: cool Fotos machen und dafür bezahlt werden! Klar, war unsere freie Entscheidung, aber der Job hat mir die Wiesn als positive Heterotopie ziemlich vermiest. Unsere Aufgabe (nochmal: Menschen mit erhöhtem Alkoholpegel Fotos zu verkaufen, die in einem Papprahmen in Lederhosn-Form stecken und auf dessen Rückseite ein Kasten mit dem Titel ‚Meine Nummer‘ steht) klingt wie ein schlechter Scherz. Abgesehen davon, dass ich seitdem einen Brechreiz unterdrücken muss, wenn ich Schlager wie „Take me Home Country Roads“ höre, wurden wir nach der Anzahl der verkauften Fotos bezahlt, die, sind wir mal ehrlich, in Zeiten von Digicams und Smartphones wirklich kein Mensch braucht.
Und da könnt ihr eins und eins zusammenzählen, wie die Fotos (für knapp 10 Euro pro Stück!) dann doch verkauft werden: „Ich kauf dir eins ab, wenn du mir deine Nummer gibst, steht doch eh hinten drauf oder?“, „Ah die Nummer gibt’s mit dazu?“, „ A Foto wui i ned, aber kimm hoit a moi auf meinen Schoß!“, „Du bist aber süß, kann ich lieber dich kaufen?“, „Darf ich mal kneten? Dann kauf ich eins!“ Und das sind nur die verbalen Reaktionen, begrapscht werden und direkte Aufforderungen zum Geschlechtsverkehr waren genauso häufig. Noch direkter ist die Anspielung natürlich bei den Promillas, für die die Frage ‚Willst du mal blasen‘ zur Standardreaktion potentieller Kunden gehört.

Jede*r weiß, was auf der Wiesn los ist und alle gehen trotzdem hin. Weil es für viele (auch Frauen*) eben ein verlockender Ort ist, um Spaß zu haben.

Die „Sexyness“ der in den Dirndln steckenden Verkäufer*innen, ist neben Mitleid und Betrunkenheit in den meisten Fällen der einzige Grund ein so schwachsinniges Produkt zu kaufen. Und da nach der Anzahl der verkauften Produkte bezahlt wird, stehen die Verkäufer*innen unter Druck auf die Anmachen zumindest minimal einzugehen. Je mehr Flirt- und Körpereinsatz, desto mehr Umsatz. Und das für 10 Prozent der Einnahmen. Ich nenne das Ausbeutung von Frauen* und ihren Körpern.
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Jede*r weiß, was auf der Wiesn los ist und alle gehen trotzdem hin. Weil es für viele (auch Frauen*) eben ein verlockender Ort ist, um Spaß zu haben. Fair enough. Das soll ihnen gegönnt sein. Aber dann muss doch von jeder Seite auch versucht werden, diesen Ort sicher und genießbar für alle zu machen. Auch Nuschin Rawanmehr vom Migrationsbeirat der Stadt München und Koordinatorin des Vereins "Frauen der Welt" betont: „Wenn Alkohol-Tourismus dazu führt, dass Männer ein sozial verträgliches Benehmen - vor allem gegenüber Frauen - nicht einhalten können, sollte man vielleicht mal darüber nachdenken entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.“
Es kann nicht sein, dass nur Frauen* für ihre Sicherheit auf der Wiesn sorgen müssen. Männer müssen in Verantwortung gezogen werden. Sexistische Jobs, wie die Promillas und Mamarazzis gehören abgeschafft oder zumindest transparenter gemacht. Und es ist schön und wichtig, dass es mittlerweile die Institution „Sichere Wiesn“ gibt, die eine Anlaufstelle für Frauen* ist, die belästigt worden sind oder sich bedroht fühlen. Aber wo sind die Regeln für Männer, wo sind die Zero-Tolerance-Schilder und die Anti-Grapscher-Sticker und die No-Racism-Plakate?
Warum muss Mädchen und Frauen immer noch geraten werden, sich „vor dem Wiesn-Besuch sichere Heimwege zu suchen“? Wenn die Wiesn und München angeblich so ein weltoffener Ort ist, warum wird schwulen Männern auf der Wiesn-Webseite empfohlen, nicht zu offen Händchen zu halten oder rumzumachen? Die Webseite beantwortet es selbst: „Nicht alle Wiesn-Gänger haben Verständnis für eine offene schwule oder lesbische Lebensweise.“ No shit. Vielleicht doch einfach nicht hingehen.

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