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So ist der Alltag als Volunteer in einem der größten Refugee-Camps Europas

Help Refugees, Mobile Refugee Support, Adrian Abbott.
Stell dir vor, die Welt ist verrückt geworden: Du versuchst täglich, unschuldigen Menschen zu helfen, die kein Dach über dem Kopf, nichts zu essen und keine Aussicht auf Besserung haben – aber nicht nur ein Großteil der Öffentlichkeit, sondern auch die Polizei ist gegen dich. Stell dir vor, du stehst dermaßen unter Druck und bist so erschöpft, dass du jeden Morgen nach dem Aufwachen erstmal ein bisschen weinen musst. Klingt wie eine Science-Fiction-Dystopie? Genau das ist in dieser Sekunde Realität im Norden Frankreichs.

Der vergessene Jungle von Calais

Das ehemals bekannteste Refugee-Camp Europas, auch bekannt als der „Calais Jungle“, beherbergte zum Höhepunkt der Krise im Juni 2016 etwa 8000 Geflüchtete. Das großflächige Zeltdorf, auf dem es eine Infrastruktur, improvisierte Teestuben, Restaurants und sogar Nachtclubs gegeben hat, wurde im Oktober 2016 offiziell geräumt. „Geräumt“ bedeutet: Gewaltsam von der französischen Polizei zerstört oder abgebrannt. Während die Medien sich schon längst an den Folgen der scheinbar abgeschlossenen „Flüchtlingswelle“ abarbeiten, ist die Flucht für die Menschen in Calais und Dunkerque noch immer nicht vorbei. Knapp 2000 Menschen – darunter mindestens 200 Kinder ohne Begleitung – harren immer noch im nordfranzösischen Wald aus. Sie schlafen seit Monaten in Zelten oder im Freien, sind dem Kalkül der französischen Polizei ausgesetzt und hoffen unbeirrt weiter auf Asyl. Die meisten wollen nach England. Auf 2000 Geflüchtete kommen momentan nur circa 50 Freiwillige verschiedener NGOs, die jeden Tag mit vollem Einsatz versuchen, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen – im vergessenen Jungle von Calais.
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Eva ist eine von ihnen. Sie ist 27 Jahre alt und kommt aus Münster. Seit sie vor vier Wochen ihr Design-Studium beendet hat, ist sie in Nordfrankreich. Eigentlich wollte sie nur vierzehn Tage bleiben, geplant sind jetzt mindestens zwei Monate – weil ihre Hilfe so dringend nötig ist, aber auch, weil der Ort sie fesselt. Momentan kocht sie für die NGO „Refugee Community Kitchen“ täglich 2.000 Mahlzeiten und verteilt sie in Calais und Dunkerque. Dabei kommt sie an körperliche und emotionale Grenzen. Und sie braucht unsere Hilfe.

Kopfschütteln reicht nicht

Liebe Eva, wie wurdest du auf die Situation in Calais aufmerksam und wieso hast du beschlossen, vor Ort zu helfen?
Davon gehört habe ich zum ersten Mal, als die sogenannte „Flüchtlingskrise“ plötzlich ein großes Thema in den Medien wurde, aber wirklich darauf aufmerksam geworden bin ich erst im Oktober 2016, während ich auf meinem Weg nach England direkt am Jungle vorbeigekommen bin. Ich erinnere mich auch jetzt noch gut an den Anblick zahlloser Menschen, die in scheinbar einfachsten Verhältnissen auf einem riesigen Feld gewohnt haben, und ebenso gut an die Stacheldrahtzäune und die vielen Polizisten mit ihren Maschinengewehren, die eine Barriere zwischen „uns“ und „denen“ geschaffen haben. Drei Wochen später, auf meinem Rückweg, war dann auf einmal nichts mehr davon übrig. Der komplette Jungle war geräumt oder abgebrannt, aber Menschen wird man nicht so einfach los wie ein paar Zelte. In den folgenden Monaten hab ich mich daher oft gefragt, was aus all diesen Personen geworden ist. Als ich dann im vergangenen Jahr über Instagram auf die Organisation „Help Refugees“ gestoßen bin und erfahren musste, dass die Probleme in Calais noch immer aktuell sind und NGOs dringend nach freiwilligen Helfern suchen, war für mich schnell klar, dass ich nicht mehr länger nur den Kopf darüber schütteln kann. Deshalb bin ich jetzt hier.
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Wie hat man sich deinen Alltag vorzustellen?
Mein Arbeitstag beginnt morgens um 9 Uhr, wenn wir uns in unserer Lagerhalle treffen und dort jeden Tag mit einem Morning Briefing starten, bei dem wir uns alle gemeinsam physisch ein bisschen auflockern und psychisch auf den Tag einstellen, sowie mit aktuellen Informationen über geplante Räumungen der Polizei oder andere besondere Geschehnisse versorgt werden. Danach gehen wir an die Arbeit: Einige Freiwillige finden sich an einem großen Tisch ein, wo Sachspenden kontrolliert und sortiert werden, einige bauen Zelte auf und prüfen sie auf Vollständigkeit, es werden Schuhe geputzt, kaputte Kleidungsstücke geflickt, Holz gehackt und viel Gemüse geschnibbelt. Das war in den vergangenen Wochen auch mein Alltag: Ich gehe jeden Morgen in die Küche und bereite Gemüse vor oder helfe beim Abwasch. Wie viele Zwiebeln, Tomaten, Gurken oder Knoblauchzehen dabei durch meine Hände gegangen sind, kann ich schon lange nicht mehr zählen, aber für 2.000 Mahlzeiten täglich braucht man verdammt viel davon. Am frühen Abend, sobald das Essen fertig ist, fahren dann zwei Teams raus, um es an die Menschen zu verteilen: Eines nach Dunkerque, eines nach Calais. Wenn wir wieder zurück zum Lager kommen, ist die Sonne bereits untergegangen, aber trotzdem beschwert sich niemand, wenn wir dann noch die Vans ausräumen und sauber machen. Oftmals sind wir erst nach einem langen 12-Stunden-Tag um 21 Uhr wieder zurück auf unserem Campingplatz, wo die meisten Freiwilligen in Mobilheimen zusammenleben. Dort sitzen wir dann auch noch bis in die Nacht beieinander – irgendjemand hat immer ein Bier oder ein offenes Ohr übrig – und versuchen uns verzweifelt ein bisschen Normalität zu bewahren, an diesem Ort, wo sonst rein gar nichts normal zu sein scheint.
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Help Refugees, Mobile Refugee Support, Adrian Abbott.

Einige haben das Glück, ein Zelt zu besitzen – viele haben nichts dergleichen.

Wie sind die Lebensbedingungen der Geflüchteten?
Menschenunwürdig. Einige haben das Glück, ein Zelt zu besitzen – viele haben nichts dergleichen. Nicht einmal einen Schlafsack oder eine Decke. Es gibt keine sanitären Anlagen und keine Unterkünfte. Die Menschen hier leben in Wäldern, auf Wiesen oder schlafen einfach auf dem Bürgersteig. Sie müssen immer in Alarmbereitschaft sein, weil jederzeit die Polizei auftauchen und sie brutal vertreiben könnte, unter Verwendung physischer Gewalt oder Tränengas. Oder indem sie auf Schlafsäcke urinieren und Zelte zerschneiden. Letztes Jahr gab es eine große statistische Erfassung der Lebensbedingungen für Geflüchtete in Nordfrankreich (durchgeführt von „Refugee Rights Europe“). 90% der Menschen gaben an, dass sie bereits Polizeigewalt erfahren haben. Menschenrechte werden hier tagtäglich mit Füßen getreten, und niemand sieht hin.
Auf was hoffen die Menschen in Calais? Wieso harren sie im Wald aus?
Sie alle hoffen auf eine Möglichkeit, nach England zu kommen, weil sie entweder Familie oder Bekannte dort haben, oder weil sie glauben, dass ihnen in England eher ihr Asylantrag bewilligt wird, als anderswo. Einige beherrschen auch die englische Sprache, was ebenfalls in ihre Entscheidung miteinfließt, oder sie glauben, dass ihre Chancen auf Bildung dort besser sind. In den vergangenen Wochen habe ich mich mehrmals mit einem jungen Mann unterhalten, der zuvor drei Jahre in Deutschland gelebt hat und dort drei Jahre auf die Bearbeitung seines Asylantrags warten musste. Letztendlich wurde sein Antrag abgelehnt. Deshalb ist er jetzt hier. Aber er hat mir auch erzählt, dass er drei Jahre lang keinen Job ausführen durfte. Das ist anstrengend und zermürbend. Er glaubt, dass in England bessere Bedingungen auf ihn warten.
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Ein Tropfen auf dem heißen Stein

Wie schafft man es, in dieser Situation nicht den Mut zu verlieren?
Das ist eine gute Frage. Oft wache ich morgens auf und möchte am liebsten alles hinschmeißen, weil es sich anfühlt als würden wir hier einen Kampf austragen, den wir nicht gewinnen können. Unsere Arbeit hier ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ja, wir können täglich frisches Trinkwasser vorbeibringen, warme Mahlzeiten verteilen oder gespendete Zelte herausgeben, aber letztendlich sind wir nur ein paar wenige Menschen gegen viele verängstigte Einwohner, unzählige brutale Polizisten und einen ignoranten Staat. Dann erinnere ich mich aber an etwas, was eben diese alle zu vergessen scheinen: Dass hinter „den Geflüchteten“ Individuen stecken. Menschen, die sich zwar in Sprache, Herkunft und Glauben von uns unterscheiden, aber doch genauso sind wie wir. Und wenn wir mit einem heißen Tee, einer warmen Mahlzeit oder einem freundlichen Lächeln auch nur einer einzigen Person ein bisschen Hoffnung geben können, dann hat sich der Tag schon gelohnt.
Help Refugees, Mobile Refugee Support, Adrian Abbott.
Wie sind eure Erfahrungen mit der französischen Polizei?
Die Polizei tut hier alles, um uns das Leben zur Hölle zu machen: Die Geflüchteten betrifft das natürlich am meisten, aber auch wir werden nicht verschont. Rechtlich haben sie zwar keine Grundlage, um uns die Arbeit hier zu verbieten, aber trotzdem halten sie uns gerne an und kontrollieren unsere Ausweise oder versuchen uns einfach einzuschüchtern. Ich selber habe das bisher zum Glück nicht erleben müssen, aber in der Vergangenheit gab es auch schon mehrmals verbale als auch tätliche Angriffe auf freiwillige Helfer.
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„Police no good“

Was war der für dich schmerzhafteste Moment?
Den für mich schmerzhaftesten Moment habe ich erlebt, als ich zum ersten Mal rausgefahren bin, um in Dunkerque Essen zu verteilen. Dort habe ich Sahar (Name geändert) kennengelernt – ein kleines Mädchen aus dem Irak, gerade acht Jahre alt – die mir freudig dabei geholfen hat, Müll einzusammeln. Ein Wagen der Polizei fuhr an uns vorbei. Sahar sieht sie, dann schaut sie zu mir hoch und schüttelt den Kopf. „Police no good, police no good“, hat sie gesagt, und mir außerdem erzählt, dass Polizisten am vergangenen Abend ihr Zelt zerschnitten haben. Es hat die ganze Nacht und den gesamten folgenden Tag geregnet, es war kalt, und erwachsene Männer haben diesem jungen Mädchen den einzigen Rückzugs- und Schutzort genommen, den sie besitzt. Als ich in ihrem Alter war, haben meine Eltern mir erzählt, dass es die Polizei gibt, um mich zu beschützen und dass mir Menschen in Uniform Sicherheit bieten. Heutzutage bin ich zwar älter und habe genug Unrecht gesehen, um zu wissen, dass diese Einstellung der Polizei gegenüber nicht unbedingt der Wahrheit entspricht, aber trotzdem hat es mir das Herz gebrochen, als ich in diesem Moment in die Augen von Sahar sehen musste und nichts anderes tun konnte, als ihr zuzustimmen. „Yes, you’re right. Police no good.“
Welche Momente machen Hoffnung?
Die Freundlichkeit der Menschen hier gibt mir immer wieder Hoffnung und Kraft. Vor ein paar Tagen kam ein kleiner Junge zu mir – vielleicht vier oder fünf Jahre alt – und hat ganz selbstverständlich seine Schokolinsen mit mir geteilt. Das war so rührend, dass ich beinahe in Tränen ausgebrochen wäre. Wenn wir lange draußen unterwegs sind und mir kalt wird, dann dauert es nie lange, bis mir jemand einen Becher heißen Tee in die Hand drückt. Die Gespräche mit den Menschen hier geben mir auch Kraft, es bereichert mich ungemein mit ihnen zu reden und von ihnen zu lernen. So emotional anstrengend die Situation auch ist, ich gehe jeden Abend ins Bett und weiß, dass ich etwas Richtiges und Wichtiges getan habe.
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Helfen ist einfach!

Was können wir tun, um euch zu unterstützen?
1. Selber vorbeikommen! Helfende Hände werden hier vor allem in den Wintermonaten dringend gesucht. Es ist ganz egal, ob du nur einen Tag, eine Woche, einen Monat oder sogar noch länger Zeit hast, jede Sekunde ist Gold wert. Melde dich einfach über helprefugees.com oder refugeecommunitykitchen.com an.
2. Spenden! Geldspenden und Sachspenden bringen uns durch den Winter. Auf helprefugees.com gibt es eine aktuelle Liste mit Sachspenden, die am dringendsten benötigt werden. In den Wintermonaten sind das vor allem Zelte, Schlafsäcke und warme Winterkleidung.
3. Auf die Situation aufmerksam machen! Die Medien scheinen schon längst vergessen zu haben, dass die Probleme hier in Calais noch immer bestehen, und das merken wir deutlich an der Anzahl der Spenden und freiwilligen Helfer. Informier dich, sprich mit anderen Leuten darüber, veranstalte Solipartys oder andere Veranstaltungen, hilf uns die Situation hier wieder ins Zentrum der Öffentlichkeit zu bringen.
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