Wenn man in einer Großstadt lebt, kommt auch für den entspanntesten Menschen einmal der Tag, an dem er oder sie sich völlig entnervt und gestresst die vollgestopften Straßen und U-Bahngänge entlang quetscht. Jeder einzelne, mit dem man sich da durch den öffentlichen Nahverkehr im wahrsten Sinne des Wortes näher kommt, läuft Gefahr etwas von der eigenen Genervtheit abzubekommen. Ich frage mich dann meist, warum ich eigentlich so gestresst bin. Dafür gibt es bestimmt viele Gründe: Zuerst einmal sind große Menschenmengen offensichtliche Trigger für Überreizungen, wenn nicht sogar Panikattacken. Aber die meisten Menschen erreichen ihren Arbeitsplatz morgens, ohne schon auf dem Weg dahin Dutzende Fremde auf der Straße aufs Übelste beschimpft zu haben. Ich weiß zwar nicht genau, wie sie das schaffen, aber es soll sogar die Regel sein. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass wahrscheinlich ein längst selbstverständlicher Gegenstand, der mein ständiger Begleiter war, die Ursache für meine Unentspanntheit sein könnte.
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Zu meinem elften Geburtstag bekamt ich meinen ersten MP3-Player geschenkt und fing an, wann immer ich allein war, Musik zu hören. Mit wachsendem Alter half mir das auch dabei, dem ganzen Pubertätswahnsinn zu entkommen, mit dem man als Jugendliche nunmal klar kommen muss. Ich flüchtete mich also immer öfter in die Isoliertheit meiner Kopfhörer und mit der Zeit entwickelte sich daraus eine echte Abhängigkeit zu den kleinen Dingern. Ohne meine Kopfhörer konnte ich das Haus nicht mehr verlassen. Neulich erst hatte ich sie an meinem Arbeitsplatz vergessen und als ich das bemerkte, war ich schon zu weit gekommen um noch einmal umzudrehen. Ich merkte die Panik hochsteigen: „Wie soll ich die ganzen 90 Minuten Heimweg nur ohne meine Kopfhörer und ganz allein gelassen mit meinen Gedanken überstehen?“, dachte ich.
Die einzigen stillen Momente in meinem Leben, an die ich mich erinnern konnte, endeten im Desaster. Einmal machte ich mit jemandem Schluss, den ich eigentlich sehr mochte, ein anderes Mal ließ ich mich über der Lippe piercen und sah aus als hätte ich einfach einen riesigen Pickel und ein weiteres Mal rasierte ich mir komplett den Kopf und färbte mir die verbliebenen Stoppelhaare im Leopardenmuster. Alles große Momente der Reue.
Aber zurück zum Thema, während der besagten Heimfahrt musste ich bereits nach fünf Minuten überrascht feststellen, dass die Panik sich legte und mein Kopf plötzlich seltsam klar wurde. Der ganze Stress des Tages fiel einfach von mir ab. Als ich zuhause ankam, fühlte ich mich bereits wie eine Zen-Göttin. Anstatt, wie sonst, meine Mitbewohner zu meiden und sofort in meinem Zimmer zu verschwinden, hatte ich richtig Lust mich mit den anderen zu unterhalten. Ich war weder wütend noch gestresst, sondern einfach nur tiefenentspannt.
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Ich bin mir sicher, dass ich nicht die einzige bin, die solch eine abhängige Beziehung zu ihren Kopfhörern hat. Wenn man darauf achtet, dann hat doch eigentlich fast jeder im öffentlichen Raum mittlerweile diese Dinger im oder auf dem Ohr. Fast ein bisschen unheimlich. Wie in einem Science-Fiction-Film. Auch für die 29-jährige Miyo Padi wurden ihre Kopfhörer nach und nach zur Distanzierungshilfe: „Ich mag es nicht, wenn mich Fremde ansprechen, oder versuchen mit mir in Kontakt zu treten, also höre ich immer Musik, einen Podcast oder ein Hörbuch auf dem Weg zur Arbeit, so kann ich mich ideal vor ungewollten Kontaktaufnahmen schützen. Mittlerweile kann ich darauf nicht mehr verzichten. Allein bei dem Gedanken daran, dass ich meine Kopfhörer eventuell vergessen könnte, werde ich absolut panisch. Deshalb habe ich an meinem Arbeitsplatz immer ein Ersatzpaar für alle Fälle. Auch in jeder meiner Manteltaschen habe ich immer welche, damit ich nie in die Situation komme, eine U-Bahnfahrt ohne etwas auf den Ohren durchstehen zu müssen.“
Warum aber haben wir so schreckliche Angst davor, dass es auch mal still sein könnte? Jess Wilde, 29, war auch einmal eine von uns. Heute hat sie die Kopfhörer aber aus ihrem Leben weitestgehend verbannt. „Vor etwa 18 Monaten habe ich gemerkt, wieviel ich dadurch verpasse, dass ich mich den ganzen Tag von allem abschirme. Wenn ich jetzt von der Arbeit heimkomme, schaue ich kein Fernsehen, höre keine Musik, sondern versuche einfach die Stille auszuhalten. Es ist fast wie Wellness für die Ohren. Ich fühle mich wieder besser mit der Welt verbunden und habe einfach mehr Freude. Ich gehöre wieder dazu.”
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Das alles klingt so einfach wie einleuchtend, denn durch die ständige Beschallung durch akustische Reize nehmen wir uns selbst die Möglichkeit, diese zu verarbeiten. Oftmals wollen wir uns einfach nur ablenken oder beschäftigt halten, um nicht zu viel nachzudenken. Pandora Paloma, Yogaexpertin und Gründerin von Rooted London, erklärt: „Sich in Ruhe und Stille mit sich selbst zu beschäftigen, führt zu größerer Verletzlichkeit und davor haben viele Angst. Wenn wir allerdings versuchen, uns auf unsere Sensibilität einzulassen, können wir uns noch besser kennenlernen.“ Des Weiteren empfiehlt sie: „Man sollte versuchen, sich nicht zu sehr durch äußere Reize aus der inneren Ruhe bringen zu lassen. So kann man auch üben, sich in hektischen Zeiten nicht mehr so sehr stressen zu lassen. Wir lernen damit auch uns selbst besser zu verstehen.“
Psychologin Dr. Kate Potter stimmt ihr zu: „Sich Zeit zu nehmen um abzuschalten und auf unsere innere Stimme zu hören, hat zur Folge, dass wir besser abschalten können. Die Gedanken beruhigen sich und wir können unserem Körper wieder zuhören. Plötzlich werden Bedürfnisse wieder ganz neu wahrgenommen. Wir sensibilisieren uns dann wieder dafür, ob der Körper durstig ist oder eine Pause braucht und können ihm das geben, was er benötigt.“
Eine Weile, oder vielleicht sogar ganz auf den Gebrauch von Kopfhörern zu verzichten, kann dann bedeuten, dass unsere Sinne sich wieder schärfen.
„Die Stille macht uns das Angebot aus der Innerlichkeit unserer Gedanken herauszutreten und auf unsere körperlichen Empfindungen wieder mehr Acht zu geben. Der Tee schmeckt plötzlich wieder besser, oder wir können uns ganz neu auf Gespräche mit unseren Mitmenschen konzentrieren“, so Dr. Potter.
Es ist also enorm wichtig, sich nicht immer nur von der Außenwelt abzuschirmen. Immerhin habe ich von nur einer Fahrt ohne meine Kopfhörer eine solche Veränderung an mir und meinem Stresslevel feststellen können.
Mittlerweile habe ich mir selbst ein Limit auferlegt, wie oft ich mich in meine alte Gewohnheit flüchten darf. Seit ich mich daran halte, bin ich wieder wesentlich entspannter und auch meine Mitmenschen müssen morgens keine Angst mehr vor mir haben.
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