Dieser Artikel erschien zuerst bei Mit Vergnügen.
Schuhe sind, genauso wie Handtaschen oder Jacken, beliebte Symbole für ein modisches Persönlichkeitsorakel. "Zeig mir deinen Schuh und ich sag dir, wer du bist" wird oft von selbsternannten Stilexperten versprochen und wie das eben mit Esoterik dieser Art so ist: Ein bisschen Wahres steckt immer drin. Weil ich selbst zwar keinen Schuhtick, aber von jedem erdenklichen Modell schon mindestens ein paar besessen und für gewisse Zeit mit felsenfester Überzeugung getragen habe, fällt mir nichts leichter als diese Art der Charakterisierung:
Text: Ilona Hartmann
1. Chelsea Boots
Steile, aber nicht unrealistische These: Jeder und jede ChelseabootträgerIn unter 35 war zumindest kurz, aber heftig entweder in Florence Welch, Morrissey oder alle Mitglieder von Mando Diao verknallt. Als modisches Kopfnicken in Richtung der Mods im Großbritannien der 1960er ruft der knöchelhohe Stiefel auch heute noch ganz leise „Rock’n’Roll!“, bestellt ein Bier und traut sich erst nach dem dritten zu tanzen – ist sodann aber flink und agil wie 2008, als man zu „Fight the start“ durch den Indie-Club der Heimatstadt fegte.
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2. Lederschnürschuhe
Sie können sehr elegant sein oder so wirken, als wolle man sehr elegant sein, was dann das genaue Gegenteil zur Folge hat. Rahmengenähte, handgefertigte Schuhe aus dem Leder glücklicher italienischer Ziegen, die den Fuß wie einen Handschuh umschmeicheln, lassen auf einen Lebenswandel schließen, der weder weite Fußwege noch Wetterbeeinflussung beinhaltet. Klingt für den einen beneidenswert, für den anderen gähnend langweilig – immerhin sorgen die feinen Dinger meistens für ein wohlklingendes Klick-Klack, was immer noch besser ist als das schlappschlurfige Schleifgeräusch von Adiletten, siehe Punkt 11.
3. Nagelneue Sneakers
Neue Sneakers können vieles bedeuten. Dass man sich gerade neue Sneakers gekauft hat, zum Beispiel. Es könnte sich aber bei dem oder der TrägerIn durchaus auch um eine Größe der Rap-Szene oder medizinisches Fachpersonal handeln, die Grenzen sind da ja unter Umständen fließend. Und seit in den letzten Jahren immer mehr monochrom weiße Sneakers den Markt fluten, scheint auch eine bislang berufskleidungsdominierte Karriere als Ärztin, Altenpfleder oder Tatortreiniger modisch wieder attraktiver geworden zu sein.
4. Ausgelatschte Sneakers
Ausgelatschte Sneakers können vieles bedeuten. Dass man gerade kein Geld für neue Sneakers hat, zum Beispiel. Oder, dass man lässiger Skater ist. Oder, dass man mal lässiger Skater war, mittlerweile durchaus Geld für neue Sneakers hätte, aber jetzt in einer Agentur in Kreuzberg arbeitet und sich noch nicht eingestehen möchte, ein besserverdienender Großstadtyukkie geworden zu sein und sich an seinen letzten Rest Streetcred krallt – in diesem Fall eben mit den Zehen.
5. Ugg-Boots
Eines der umstrittensten Schuhmodelle der Gegenwart. Ungesicherten Gerüchten zufolge stammt der erste Entwurf für den unförmigen Fellstiefel von einem künstlerisch mittelmäßig talentierten Dreijährigen, der zur Weihnachtszeit einen Nikolausschuh zeichnen wollte. Wer sich eines dieser Ungetüme ans Beinende steckt, hat entweder ungeachtet jeder Eitelkeit wirklich keine Lust mehr auf kalte Füße während des sibirischen Berliner Winters oder hat jede modische Restwürde zusammen mit der ersten Longchamps-Handtasche an der Kasse abgegeben.
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6. Springerstiefel
Obwohl sie so schwer und klobig daherkommen, sind Springerstiefel wahre modische Freigeister. Sie verbinden Linke, Rechte und Lifestyle-Blogger in Mitte und sind damit mehr und mehr unfreiwillig zum geschnürten Verbindungsstück für ansonsten meilenweit auseinander liegende Subkulturen mit konträren politischen Positionen geworden. Die einzigen, die heutzutage eher nicht mehr mit den schwarzledernen Fußpanzern gesichtet werden, sind die ursprüngliche Zielgruppe: Fallschirmspringer.
7. Wanderschuhe
Der Alltag in Berlin ist ein großes Abenteuer. Unwegsames Gelände, metertiefe Schlaglöcher, Pfützen, Spritzen, Hundehäufen. Das alles kann dem wackeren Wanderschuhträger nichts anhaben, unbeirrt kämpft er sich mit quietschenden Profilsohlen durch den Großstadtdschungel und trotzt jeder noch so unwirtlichen Witterung. Abends kehrt er müde von seiner Expedition heim und rollt sich nach dem Verzehr eines selbstgefangenen Lachs' in seinen bis –50°C isolierten Schlafsack ein und träumt von einem Meet&Greet mit Bear Grylls.
8. Ballerinas
Orthopäden sind noch unsicher, was zuerst da war: der Plattfuß oder der Ballerina. So oder so treten beide auffällig häufig in Kombination auf. Dabei ist die eigentliche Intention des Ballerinas am Frauenfuß eine gänzlich andere, nämlich die Übersetzung Tänzerinnengrazie in asphalttaugliches Schuhwerk. Im Praxistest wirkt ein Ballerina allerdings schnell eher schlappenartig und wenn noch eine Senk-, Spreiz-, oder besagte Plattfußdeformierung vorliegt, hat sich’s leider endgültig mit der leichtfüßigen Tanzperfomance namens "Schwanensee auf der Sonnenallee".
9. Stilettos
Erotisch. Sinnlich. Zuweilen unfassbar unbequem. Und: unverkennbar weiblich. Stilettos sind so bedeutungsüberladen wie Miniröcke oder falsche Fingernägel. Sie verleihen der Trägerin sogleich einen selbstbewussten, hüftwogenden Gang und kündigen ihre Schritte schon von Weitem hörbar an. Ob man die zahnstocherdünnen Absätze aus Berechnung oder purer Freude an ihrem Aussehen trägt, ist ganz egal, wichtig ist nur, dass man immer genug Blasenpflaster oder für Notfälle einen Klappstuhl dabei hat.
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10. Chucks
Chucks sind so harmlos wie mittelscharfer Senf und so aufregend wie eine neu eröffnete Promi-Bar im Prenzlauer Berg. In regelmäßigen Abständen schafft es ein bestimmtes Modell zum It-Piece und ist dann kurz so beliebt wie das eine Mädchen aus der Schule, das zwar an sich unspannend war, aber deren Eltern oft auf Geschäftsreise und damit keine Gefahr bei ausufernden Hauspartys waren. Wer Chucks zu seinen Lieblingen zählt, ist in den Tiefen seines Herzen ein riesiger Langweiler, aber dafür eben auch ein unkompliziert liebenswerter Zeitgenosse – und mittelscharfer Senf ist ja eh der beste von allen.
11. Adiletten
Es gibt bei Adiletten zwei Möglichkeiten: Wer sie trägt, ist entweder Bademeister oder komfortinteressierter Modeberliner zwischen Mitte und Kreuzberg. In beiden Fällen fragt man sich zu Recht, was sie eigentlich den ganzen Tag so machen. Großer Vorteil der Gummitreter: An heißen Tagen am Baggersee fungieren sie prima als Abwehrwaffe gegen lästige Zeitgenossen wie Stechmücken und Beach-Volleyballer und im Falle einer Reifenpanne lässt sich eingeschmolzen daraus ein erstklassiges Ersatzrad formen.
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