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Mein Alkoholentzug half mir, meine Magersucht hinter mir zu lassen

Foto: Jessica Garcia.
Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Essstörungen und Alkoholismus.
Mir schoss letztens ein Gedanke durch den Kopf – etwas Negatives über meinen eigenen Körper, und darüber, was ich gegessen hatte oder gerade aß. Mit solchen Gedanken schlage ich mich schon herum, seit ich ungefähr 16 war. Der Gedanke war mir also nicht neu. Meine Reaktion darauf aber sehr wohl – denn ich beschloss direkt, den Gedanken zu ignorieren.
15 Jahre lang nahm mich jeder negative Gedanke rund um meinen Körper, Sport oder meine Ernährung komplett ein. Mit 16 wurde mir offiziell eine Anorexia nervosa (Magersucht) diagnostiziert, und selbst während der Jahre, während der ich glaubte, auf dem besten Wege zur Heilung zu sein, ließen mich diese Gedanken völlig entgleisen. (Währenddessen waren meine Ärzt:innen der Meinung, ich sei schon „geheilt“ – weil ich nicht dem Bild einer Essstörung entsprach, das sich viele darunter vorstellen. Aber das ist ein anderes Thema.) In diesen Situationen rutschte ich in eine Gedankenspirale, und stürzte mich in dieselben toxischen Verhaltensmuster, wegen der ich während meiner Jugend fast im Krankenhaus gelandet wäre.
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Aber heute, mit 31, kann ich diese Gedanken weitestgehend abschütteln – und das, obwohl sie mich vor knapp einem Jahr noch komplett aus der Bahn geworfen hätten. Was hat meine Einstellung zu meinem Körper seitdem so radikal verändert? Ich glaube, es liegt daran, dass ich seit über 600 Tagen nüchtern bin.
Ich fing mit etwa 18 Jahren an, sehr viel zu trinken. Damals war das noch ziemlich normal. Alle tranken. Alle kotzten. Alle hatten am nächsten Tag einen Filmriss. Wir waren jung, und dumm, und unerfahren. Aber dann wurden die Freund:innen um mich herum langsam erwachsen und ließen den Alkoholexzess hinter sich – und ich verstand nicht, wieso es bei mir anders war. Warum ich jedes Mal, wenn ich trank, so eskalierte – und das selbst dann, wenn ich es gar nicht wollte. Ganz egal, wie sehr ich es über die Jahre hinweg auch versuchte: Ich bekam mein Trinken einfach nicht unter Kontrolle.

Es ist schwer, dich in dich selbst zu verlieben, weil du immer schön bescheiden und selbstkritisch bleiben sollst. Und es ist vor allem dann schwer, dich in dich selbst zu verlieben, wenn du dir 15 Jahre lang nur Enttäuschung, Scham und Hass entgegengebracht hast.

Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die Essstörungen und Drogenmissbrauch als Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) festgestellt haben. Eine Studie von 2013, veröffentlicht im Journal of Studies on Alcohol and Drugs, ergab zum Beispiel eine „höhere Wahrscheinlichkeit einer Alkoholsucht unter Frauen mit Essstörungen, die zum Binge-Eating oder ausgleichendem Verhalten neigen“. (Letzteres bezieht sich zum Beispiel auf Gewohnheiten wie übertriebener Sport oder selbst auferlegte Nahrungsbeschränkungen.)
Das ist nur wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass einige der Eigenschaften, die viele Betroffene einer Essstörung aufweisen, genau dieselben sind, die Menschen oft zum exzessiven Trinken bringen. Eine Studie des Australian and New Zealand Journal of Psychiatry zeigte, dass 65 Prozent der von einer Essstörung betroffenen Frauen auch den Kriterien mindestens einer Angststörung entsprachen. Stress, Angst und Unruhe waren auch für mich (und viele andere) ein großer Faktor hinter meinem Konsum. Ich war rund um die Uhr so angespannt, und ein Glas Wein (oder sechs) half mir dabei, dieses Gefühl zu betäuben.
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Wir haben es hier also schon mit zwei Störungen zu tun, die einander – auf die schlimmstmögliche Art – ergänzen, und verstärken. Ich fing ein paar Jahre nach der Entwicklung meiner Essstörung mit dem Trinken an, und die beiden befeuerten sich gegenseitig. Ich trank, um mich in meinem Körper selbstbewusster zu fühlen. Der Alkohol trieb mich dann dazu, mir um 3 Uhr morgens noch Burger bei McDonald’s zu holen – und den ganzen nächsten Tag faul auf der Couch zu liegen. Um mich danach besser zu fühlen, trank ich wieder. Und so weiter.
Alkohol kann deinen Selbstwert zerstören, und was wir oft vergessen – vor allem, während wir uns nach dem zweiten Champagner noch total super fühlen –, ist seine depressiogene Wirkung. Sprich: Er macht depressiv. Und dass ein Kater zu Angst- und Unruhezuständen führen kann, wissen wir auch alle, oder?
Nach dem Trinken wachte ich immer voller Scham, Selbsthass und inneren Unruhe auf, und die kleine Essstörungs-Stimme in meinem Gehirn liebte es, diesen Zustand auszunutzen, um mich in das Loch zurückzuwerfen, das sich in mir mit 16 Jahren geformt hatte. Während ich also brav zur Therapie ging, um meine Beziehung zu meinem Körper zu heilen, versaute ich mir all das selbst, indem ich mich jedes Wochenende betrank. 
Und dann machte ich einen Entzug.
In den ersten paar Monaten meiner Nüchternheit ging es vor allem darum, meine Zeit irgendwie zu füllen – meinen Kopf abzulenken, damit ihm nicht auffiel, dass da plötzlich ein großer Bereich meines Lebens fehlte. Ich fing an zu schreiben. Ich kreierte viel Kunst. Es war Sommer, und ich fuhr fast jedes Wochenende an den Strand. Ich ging mit meinem Partner wandern. Ich fing an, Langstrecken zu laufen.
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Ich habe jetzt keine Zeit, mir über sowas Gedanken zu machen, dachte ich ungeduldig. Es gibt wirklich Wichtigeres.

Irgendwann fiel mir auf, dass ich… naja… beeindruckt von mir selbst war. Das irritierte mich, weil uns von der Gesellschaft eigentlich verklickert wird, wir sollten uns niemals selber loben. Manchmal dachte ich dann aber doch Dinge wie: Wow, ich bin heute echt weit gelaufen, oder: Dieser Satz, den ich da gerade geschrieben habe, hört sich super an. Ich war abwechselt überrascht und begeistert darüber, wie mein Körper jetzt funktionierte – wie er sich bewegte, was er erschuf.
Das klingt kitschig, und das war es auch. Es ist schwer, dich in dich selbst zu verlieben, weil du immer schön bescheiden und selbstkritisch bleiben sollst. Und es ist vor allem dann schwer, dich in dich selbst zu verlieben, wenn du dir 15 Jahre lang nur Enttäuschung, Scham und Hass entgegengebracht hast.
Meine Nüchternheit ließ mich aber nicht nur erkennen, wozu mein Körper so fähig war (und nicht bloß, wie er aussah), sondern stellte mein ganzes Leben auf den Kopf. Ich begann neue Hobbys, lernte neue Leute kennen. Ich fing an, meine Zukunft zu planen. Und als dann vor Kurzem diese Zwangsgedanken meiner Essstörung versuchten, mein Gehirn zu kapern, schickte ich sie einfach wieder weg. Ich habe jetzt keine Zeit, mir über sowas Gedanken zu machen, dachte ich ungeduldig. Es gibt wirklich Wichtigeres.

Mein Körper war nicht länger etwas, was ich bestrafen musste – sondern etwas, was ich brauchte, um all meine Ziele zu erreichen. Er wurde für mich etwas Wertvolles, und das weit über sein Äußeres hinaus.

Genau das ist die Lektion, die mir meine Nüchternheit erteilte: Es gibt wirklich Wichtigeres. Wie zum Beispiel das, was ich tun und erschaffen kann; wie die Menschen um mich herum; wie die Ziele, die ich mir in meiner Karriere und meinem Leben gesetzt habe.
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Ich will damit nicht sagen, dass alle Betroffenen einer Essstörung unbedingt den Alkohol aufgeben sollten – oder auch nur, dass sie das auf wundersame Art „heilen“ könnte. Ich glaube, nicht mal ich bin wirklich geheilt; denn Essstörungen sind sehr komplexe Dämonen.
Ich habe aber sehr wohl das Gefühl, zum ersten Mal wirklich auf dem Weg der Heilung zu sein, und ich weiß, dass ich das zum Teil meiner Nüchternheit zu verdanken habe. Sowohl der Alkoholmissbrauch als auch eine Essstörung kann dich so dermaßen vereinnahmen, dass es dir schwer fällt, dir ein Leben ohne diese Zwänge vorzustellen. Manchmal dreht sich der ganze Tag um eine solche Störung. Und wenn sie besonders schlimm ist, kann sie zu extremer Einsamkeit führen – und dazu, dass diese immer wiederkehrenden Gedanken deine einzige Gesellschaft sind.
Indem ich Alkohol aus meinem Leben gestrichen habe, habe ich mir selbst bewiesen, dass ich auch ohne Alkohol als Krücke funktionieren kann. Und während sich mein Leben immer weiter füllte und andere Dinge Raum in meinem Alltag einnahmen, fühlte es sich irgendwann so an, als sei auch für meine Essstörung gar kein Platz mehr. Der Nebel aus Scham und Selbsthass in meinem Kopf begann sich zu lichten, und mein Körper war nicht länger etwas, was ich bestrafen musste – sondern etwas, was ich brauchte, um all meine Ziele zu erreichen. Er wurde für mich etwas Wertvolles, und das weit über sein Äußeres hinaus.
Ist das, was ich heute fühle, Body Neutrality? Ist es Liebe? Um ganz ehrlich zu sein, weiß ich das selbst noch nicht ganz. Ich glaube aber, dass mein Körper ganz allmählich verheilt.
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Wenn du glaubst, selbst an einer Essstörung zu leiden oder ein Problem mit Alkohol zu haben, oder eine Person kennst, bei der das sein könnte, findest du Hilfe beim ANAD e.V. Versorgungszentrum Essstörungen bzw. auf Kenn-dein-Limit.de oder beim Infotelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Suchtvorbeugung unter 0221 892031.
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