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Wie es ist, wenn die eigene Schwester Suizidgedanken hat

Foto: Ashley Armitage
Als ich ein Teenager war, wusste ich nicht einmal, was Depressionen sind. „Bist du jetzt depri?“ war so eine Floskel, die man seiner besten Freundin via ICQ schrieb, wenn sie mal wieder Hausarrest bekam.
Heute weiß ich fast mehr über die Krankheit, als mir lieb ist. Zirka drei Jahre ist es nun her, dass ich den bisher schlimmsten Anruf meines Lebens bekam. Meine damals 15-jährige Schwester hatte versucht, sich das Leben zu nehmen. Nach diesem Satz meiner Mutter hörte ich nur noch ein Horrorfilm-artiges Piepen und musste mich schwer darauf konzentrieren, irgendwann wieder Luft zu holen. Ich fühlte gleichzeitig so viel und doch so wenig. Egal, was da gerade in meinem Kopf und Herzen vor sich ging, es sollte bitte aufhören. Bis ich wirklich verstand, was gerade passiert war, bis ich es als Realität annehmen konnte, den Satz „meine Schwester hat starke Depressionen und wollte nicht mehr leben“ aussprechen konnte, vergangen mehrere Wochen. Wie bei diesen Reklametafeln aus den 90ern liefen vorerst Fragen wie diese ununterbrochen vor meinen Augen ab: Warum wollte meine kleine, süße und unschuldige Schwester, die gleiche, die ich nur wenige Jahre zuvor gefüttert, gewickelt und gebadet hatte, ihr junges Leben beenden, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte? Was hatte sie Schlimmes erlebt, das ihr den Willen zu leben nehmen konnte? Hatte sie Liebeskummer? Erträgt sie die angespannte Situation zu Hause nicht oder war ihr die Scheidung doch zu viel? Und warum hatte ich davon nichts mitbekommen?
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Retrospektiv möchte ich diese egoistischen und von Ignoranz geprägten Gedanken gern ungeschehen machen aber das kann ich nicht.

All diese Fragen waren selbstverständlich völlig irrelevant. Der wahre Grund für ihren Suizidversuch war ihre Krankheit. Retrospektiv möchte ich diese egoistischen und von Ignoranz geprägten Gedanken gern ungeschehen machen, aber das kann ich nicht. Genauso wenig kann ich mich und meinen hektischen Uni-Alltag mit den daraus resultierend weniger gewordenen Besuche dafür verantwortlich machen oder ihr die Depression abnehmen – so sehr ich es mir gewünscht hätte. Sie, meine Eltern und ich mussten lernen, die Krankheit als einen Teil von ihr zu akzeptieren und ihr im Umgang damit zu vertrauen. Wegignorieren ist nicht mehr – man hat ja gesehen, wozu das führt. Nämlich dazu, dass sie sich erst traute, sich uns anzuvertrauen, als es fast zu spät war. Erst mit dieser Erkenntnis begann für uns als Familie ein extrem heilender Prozess, mehr Offenheit, mehr Ehrlichkeit – vor allem über die Themen, die wehtaten. Dafür sind wir alle unendlich dankbar, doch wie es dazu kommen musste, verfluchen wir täglich.

Über Depressionen zu sprechen tut weh, aber es hilft

Zum ersten Mal erzählt zu bekommen, wie alles angefangen hatte, Details ihres täglichen, ins Unerträgliche wachsenden Schmerzes zu erfahren und ein Bild vom Inneren des Kopfes gemalt zu bekommen, den ich im Babyalter noch liebevoll stützte, war wieder eines dieser Erlebnisse mit Piepen im Ohr. Ich besuchte sie in der Klinik. Dort konnte sie sich nichts antun. Mir gab das Seelenfrieden und endlich konnte ich ein paar Nächte durchschlafen. Sie sah nur kalte Wände, überall dieser sterile Krankenhausgeruch „und irgendwo schreit immer jemand“, erzählte sie mir. Ich schrie – aber nur nach Innen. Außen nicke ich, weine, streichelte, versuchte zu verstehen und zu trösten. Meine Tränen, das wusste ich, müsste ich später wieder alleine versuchen zu trocknen. Aller Fokus war auf sie gerichtet. Doch dann kam eine neue Phase.
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Es gibt eine kaum verständliche Sprachnachricht, die ich meiner Mutter vor ein paar Jahren unter Tränen schickte, als ich nicht mehr nur nach Innen schreien konnte. So lange, wie ich versucht hatte, keine Gefühle nach Außen zu zeigen, keine weitere Last für meine Mutter zu sein, war das kein Wunder – irgendwann musste alles raus. Wie gesagt, der Prozess muss in der gesamten Familie stattfinden und nicht nur für den oder die Betroffene, das weiß ich heute. Trotzdem fühlte es sich in dieser akuten Phase falsch an, über mich und meinen inneren Kampf zu sprechen.

Ich habe nie gesagt, dass ich perfekt reagiert habe, das hier ist einfach nur die Wahrheit.

Das gesellschaftliche sowie mein eigenes Bewusstsein für psychische Erkrankungen hat sich seit meiner eigenen Teeniezeit extrem verschärft. Eine Entwicklung, die ich positiv werte. Nach der Schockphase darüber, dass meine 10 Jahre jüngere Schwester die Diagnose Depression bekommen hatte, sah ich mich in der Pflicht, mich ausgiebig darüber zu informieren, wieso sie diese dunklen Gedanken hat, sich ritzt und sie mehrfach von Brücken geholt werden musste. Ich musste verstehen, was bei ihr im Gehirn anders läuft als bei mir. Und weil Depressionen zum Glück heute nicht mehr totgeschwiegen werden, konnte ich im Netz haufenweise wissenschaftliche Artikel sowie persönliche Geschichten von anderen Betroffenen lesen oder mich in Foren verlieren. Geholfen hat mir dieser Prozess ungemein. Meiner Schwester natürlich nicht. Erst später würde ich erkennen, dass das meine erste Art von Flucht war. Raus mit der Depression aus dem familiären Kontext, bloß nicht daran denken, wie es meiner Kleinen gerade gehen könnte, lieber lesen, wie andere auf der anderen Seite wieder heil herausgekommen sind. Vorspulen zum Happy End. Ich habe nie gesagt, dass ich perfekt reagiert habe, das hier ist einfach nur die Wahrheit.
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Sich frontal mit den eigenen und den Gefühlen anderer auseinanderzusetzen ist sicher in vielen Familien ein ausbaufähiges Feld, nicht nur in meiner. Man hat Angst zu verletzen, verletzt zu werden aber am meisten fürchtet man sich doch eigentlich vor der Wahrheit. Glückseligkeit findet sich in der Ignoranz, sagt man schließlich. Ich weiß nicht, ob das bei psychischen Krankheiten unbedingt stimmt, denn vor der Recherche und den intimen Gesprächen hatte ich viel mehr Angst vor der Depression meiner Schwester, als danach. Nicht umsonst spielen unzählige Horrorfilme und literarische Stücke mit genau diesem menschlichen Urinstinkt, sich vor dem Unbekannten zu fürchten. In der Vorstellung ist das Monster immer viel größer, stärker und zerstörerischer als in der Realität. So war es auch bei der Erkrankung meiner Schwester. Vor allem weiß ich heute, dass sie als Person viel stärker ist, als das Monster in ihrem Kopf. Weil sie mir das gesagt hat und weil sie mir eben auch Bescheid sagt, wenn alles wieder ein bisschen dunkler scheint. „Ich bin gerade depri, aber das wird schon“, sagt sie. „Ja, das wird es. Erzähl mir, was in deinem Kopf los ist“, sage ich, ganz ohne Piepen im Ohr.
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Wenn auch du mit Depressionen und/oder Angststörungen zu kämpfen hast, kannst du dich unter anderem an die kostenfreie Telefonberatung der Deutschen Depressionshilfe wenden: 0800 3344533

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