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Netflix’ Maid half mir, meinen eigenen Missbrauch zu verarbeiten

Foto: bereitgestellt von Netflix.
Triggerwarnung: Der folgende Artikel beinhaltet Schilderungen von häuslicher Gewalt.
Achtung: Der folgende Artikel enthält Spoiler zur Netflix-Serie Maid.
Es ist Nachmittag, und ich habe eine Packung Marlboros in der Jackentasche. Ich soll eigentlich gar nicht rauchen, weil die Mutter meines Freundes das nicht mag – aber Zigaretten erinnern mich daran, wie ich richtig ausatme. Ich denke mir also eine Ausrede aus, verlasse das Haus seiner Familie und mache mich auf den Weg zu dem kleinen Bach hinter dem Haus. Die Stelle hat er mir ein paar Tage vorher gezeigt, während er gerade mal in einer seiner „guten“ Stimmungen war; jetzt gerade war er wieder schlecht drauf, und der Bach ist der einzige Ort, an dem ich mir eine kleine Verschnaufpause erhoffen kann.
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Wenn du versuchst, einer missbräuchlichen Person zu entkommen – ob nun für eine fünfminütige Zigarettenpause, oder um in ein neues Leben zu entfliehen –, ist da plötzlich diese primitive Angst in dir. Es fühlt sich so an, als rase dein ganzes Blut plötzlich doppelt so schnell durch deine Adern. Was, wenn mich mein angespannter Atem verrät und er merkt, dass ich abhauen will? Was, wenn meine Beine nicht schnell genug laufen, um mich durch die Haustür zu tragen? 
Diese Gedanken kenne ich nur zu gut; genau deswegen fühlte sich die erste Szene der neuen Netflix-Serie Maid, basierend auf dem Buch Maid: Hard Work, Low Pay, and a Mother’s Will to Survivevon Stephanie Land, so vertraut an. Mitten in der Nacht schleichen sich die alleinerziehende Mutter Alex (Margaret Qualley) und ihre noch sehr kleine Tochter Maddy (Rylea Nevaeh Whittet) aus dem Wohnwagen, in dem sie mit Alex’ missbräuchlichem Partner Sean (Nick Robinson) leben. Beim Zugucken fiel mir auf, dass ich nicht mehr einfach nur ganz entspannt vorm Fernseher saß. Ich war quasi sieben Jahre in der Zeit zurückgereist und musste auf einmal wieder der Mutter meines Freundes klarmachen, mein Handy habe im Haus keinen Empfang und ich müsse deswegen kurz mal raus – nur, um daraufhin hektisch zu dem kleinen Bach zu flüchten und dort ein paar Mal tief und ungestört durchzuatmen. 

Maid zeigt sehr gut, dass diese Form von Missbrauch auf einem immer wiederkehrenden Verhaltensmuster basiert, das dir als Opfer völlig den Kopf verdreht.

Foto: bereitgestellt von Netflix.
Mit 28 Jahren habe ich zwei romantische Beziehungen mit emotional missbräuchlichen Männern hinter mir, und fühle mich von Maid unheimlich gut verstanden. Die Serie zeigt sehr gut, dass diese Form von Missbrauch auf einem immer wiederkehrenden Verhaltensmuster basiert, das dir als Opfer völlig den Kopf verdreht. Mit nur 18 Dollar in der Tasche stellen Alex und Maddy schnell fest, dass Alex’ wenige Bekanntschaften ihnen kaum helfen können – also schlafen die beiden in ihrem Auto. Auf der verzweifelten Suche nach einem neuen Zuhause holt sich Alex schließlich offizielle Sozialhilfe. „Und was soll ich da sagen? Dass er mich nicht geschlagen hat?“, antwortet sie, als sie gefragt wird, ob sie wegen des Missbrauchs Anzeige erstattet hat. Offensichtlich tendiert Alex unabsichtlich dazu, das Verhalten ihres Missbrauchers zu verharmlosen.
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Tatsächlich laufen Gespräche rund um häuslichen Missbrauch auch im echten Leben oft ähnlich ab. „Wenn es so schlimm war, warum ist sie dann nicht einfach gegangen?“, oder: „Er ist doch ein netter Kerl, ich habe ihn nie irgendwas Schlimmes tun sehen oder sagen hören!“ Ich brauchte nach der Trennung noch ganze fünf Jahre, um überhaupt jemandem davon zu erzählen, dass mich mein erster Freund vergewaltigt hatte. Bis heute fällt es mir schwer, anderen zu beschreiben, wie mir ein anderer Mann seine neue Flamme unter die Nase rieb, während ich gerade mit seinem Baby eine Fehlgeburt erlitt
Im Laufe der ersten Episoden sehen wir Alex dabei zu, wie sie versucht, für sich und Maddy ein neues Leben zu entwerfen – in einer Welt, von der sie bisher absichtlich ferngehalten wurde. In der Folge Ponys erleben wir, wie sich Alex und Sean kennenlernen. Sie trägt gerade eines ihrer Gedichte über ihre Kindheit in Alaska vor, wohin ihre Mutter floh, um Alex’ missbräuchlichem Vater zu entkommen (ein Detail, das wir kurz danach erfahren). Ab diesem Punkt nennt Sean sie liebevoll „Alaska“; dieses süße Kennenlernen ist trügerisch.

An einem Tag war ich „Baby“, am nächsten „Bitch“. Eine Situation kippte schnell von „Ich würde dir nie wehtun oder dich verärgern“ zu „Wenn du dich jetzt so überflüssig fühlst, hättest du mir auch einfach absagen können“.

Missbräuchliche Menschen finden immer eine Möglichkeit, dir das Gefühl zu geben, gesehen und verstanden zu werden, doch die oberflächlich sentimentalen Gesten verbergen meist bösartige Absichten. An einem Tag war ich „Baby“, am nächsten „Bitch“. Eine Situation kippte schnell von „Ich würde dir nie wehtun oder dich verärgern“ zu „Wenn du dich jetzt so überflüssig fühlst, hättest du mir auch einfach absagen können“. Es ist, als wärst du unwissentlich Mitspieler:in in einem sadistischen Spiel. Du kriegst Punkte, während dich dein Gegenüber mit Komplimenten und zärtlichen Berührungen überschüttet – klassisches Love-Bombing eben –, aber bevor du dich versiehst, löst sich all das in Luft auf und du stehst wieder bei Null da. Nur ist das oft nicht so harmlos, wie es klingt: Deine Gedanken und Gefühle werden bewusst manipuliert – durch verbale Erniedrigung, Gaslighting und unverschämte Lügen. 
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Beim emotionalen Missbrauch können sich viele Betroffene glücklich schätzen, überhaupt lebend da rauszukommen. Eine solche Erfahrung ist so schlimm, dass sich viele überhaupt nicht erklären können, wieso entkommene Opfer manchmal dann doch wieder in den Armen ihrer Täter:innen landen. Es ist ein Teufelskreis, in dem du dich manchmal sehr sicher fühlst, zu anderen Zeiten wiederum wie in einer Falle gefangen; dieser Teufelskreis fängt insbesondere dann von vorn an, wenn die missbräuchliche Person behauptet, du hättest sie „geheilt“ oder „bekehrt“. Auch im Laufe von Maid beobachten wir Sean dabei, wie er zwischen „liebevollem Familienmensch“ und „betrunkenem, sadistischem Betrüger“ schwankt. Am Ende der Folge String Cheese kommen sich Sean und Alex wieder näher, nachdem er ihr dabei geholfen hat, ihre Mutter (Qualleys echte Mutter, Andie MacDowell) nach ihrem Nervenzusammenbruch einzuweisen. Die beiden küssen sich leidenschaftlich, und bevor es zum Sex kommt, fragt er sie, ob das für sie okay ist. Für Alex wirkt es, als sei Sean wieder der Mann, den sie damals kennengelernt hat – bis er sie in der darauffolgenden Episode doch wieder körperlich einschüchtert.
Ich habe in meinem Leben ein ähnliches Hin und Her durchgemacht. Nachdem ich den Mann, mit dem ich zusammen war, lieb darum gebeten hatte, mir seine neue Freundin nicht unter die Nase zu reiben – für die er mit mir Schluss machte –, während ich gerade eine Fehlgeburt durchlitt, wirkte er erst einsichtig und schuldbewusst. „Ich war so schlecht zu dir, aber du warst immer gut zu mir“, sagte er, sein Gesicht tränenüberströmt, während meine Unterwäsche voller Blut war. In einem Moment, in dem ich sein Mitgefühl gebraucht hätte, war ich diejenige, die ihm die Taschentücher reichte. Nach nur 24 Stunden kam er dann wieder zu mir zurückgekrochen, legte seinen Kopf auf meinen inzwischen leeren Bauch — und fing dann doch wieder an, ganz offen vor meinen Augen seiner neuen Flamme zu schreiben. Dieser zweigesichtige Jekyll-und-Hyde-Effekt nennt sich in der Psychologie „intermittierende“ bzw. „Manchmal-Verstärkung“ und führt zu traumatischen Verbindungen. 
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In solchen Situationen ist es sehr leicht, sich allein zu fühlen – als sei das Verhalten der missbräuchlichen Person eine bestimmte Art der Bestrafung, die du erleiden musst, weil du kein:e zufriedenstellende:r Partner:in warst.

Foto: bereitgestellt von Netflix.
In solchen Situationen ist es sehr leicht, sich allein zu fühlen – als sei das Verhalten der missbräuchlichen Person eine bestimmte Art der Bestrafung, die du erleiden musst, weil du kein:e zufriedenstellende:r Partner:in warst. Unterstützung ist dabei entscheidend; nicht nur, um überhaupt entkommen zu können, sondern um überhaupt auf die ganzen falschen Überzeugungen hingewiesen zu werden, die als Konsequenz einer solchen Beziehung in deiner Psyche verankert sind. Alex’ Mutter Paula spielt in Maid in der Hinsicht eine wichtige Rolle: Die unverblümte Künstlerin, die erst als lockerer Hippie dargestellt wird, entpuppt sich als potentielle Betroffene einer bipolaren Störung – und kann Alex daher nicht die Hilfestellung leisten, die sie braucht.
In der Episode String Cheese verletzt sich Paula schwer, als sie mit ihrem Arm das Fenster ihres Hauses einschlägt, das verpfändet werden soll. Verstört fragt Alex daraufhin Sean, ob sie mal wie ihre Mutter enden wird. Paula schlägt in Sekundenschnelle von harmlos-theatralisch zu fuchsteufelswild um und gibt Alex regelmäßig für alles die Schuld. In ihrem Charakter erkannte ich gewisse Wesenszüge meiner eigenen Mutter wieder – einer temperamentvollen Frau, bei der ich mich lange davor drückte, ihr von meiner Fehlgeburt zu erzählen, weil ich nicht von ihr verurteilt werden wollte. Demnach war sie eine der letzten Personen, die ich einweihte, und ihre Reaktion fiel aus wie befürchtet: „Und warum hast du nicht neben der Pille auch noch Kondome benutzt?“ Trotz ihrer Fehler werde ich meine Mutter aber immer lieben und ihr nur das Beste wünschen. Für manche von uns (sprich: Alex) kommt die Verantwortung für die eigenen Eltern früher, für manche später – aber irgendwann müssen wir uns alle elterlich um sie kümmern.
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Eines der stärksten Elemente der Serie sind Alex’ Frauenfreundschaften. In der Folge Ponys wird sie an eine Notunterkunft für Opfer des häuslichen Missbrauchs verwiesen, wo sie die ebenfalls davon betroffene Danielle (Aimee Carrero) kennenlernt, die Maddy Spielzeuge bringt. Danielle wird daraufhin zu einer Antriebskraft für Alex und ermutigt sie dazu, um das Sorgerecht für Maddy zu kämpfen, während Alex hoffnungslos auf dem Teppich liegt. Später entwickelt Alex auch eine tiefe Freundschaft zu Regina, der wohlhabenden Frau, deren Haus sie putzt und die Alex ihren Lohn vorenthält, weil sie (zu Unrecht) unzufrieden mit ihrer Leistung ist.
Reginas Scheidung und ihre Schwierigkeiten damit, sich als alleinerziehende Mutter neu zu erfinden, sorgen dafür, dass sich Alex und Regina durch ihre gemeinsamen Erfahrungen schließlich anfreunden. Das ist ein schöner Teil davon, was Freundschaft zwischen Frauen ausmacht – eine Zärtlichkeit und emotionale Verlässlichkeit, die dich stützt, wenn du kaum noch stehen kannst. In der letzten Folge leitet Alex dann eine Therapiesitzung für die Frauen in ihrer Notunterkunft. Alle erzählen Anekdoten von ihrem schönsten Erlebnis, und diese Szene erinnerte mich daran, wie sich meine Freund:innen – sowohl die nahen als auch die weit entfernten – um mich kümmerten, als ich am Boden war. Calls über FaceTime, ein Sofa zum Schlafen, ein heißes Bad: Die Frauen, für deren Freundschaft ich unheimlich dankbar bin, haben alle ihren Teil zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens beigetragen.
Während ich diesen Artikel geschrieben habe, habe ich die beiden Männer, von denen ich hier erzählt habe, ganz bewusst nicht auseinandergehalten. Dabei ging es mir nicht darum, ihre Anonymität zu wahren – sondern darum, ihnen nicht länger eine so zentrale Rolle in meinem Leben zuzusprechen. Durch Therapien, tolle Ressourcen wie den Podcast The Baggage Reclaim Sessionsund einfühlsam geschriebene Serien wie Maid habe ich im letzten Jahr einen ordentlichen Schritt in Richtung Heilung zurückgelegt. Während Alex in der letzten Episode mit Maddy die Berge in Montana erklimmt, setzt sie die Kleine hoch auf ihre Schultern und sagt: „Diese neue Welt ist für sie.“ Wenn ich das Kind geboren hätte, das ich verloren habe, hätte ich wohl eine ähnliche Einstellung gehabt. Jetzt bin es aber nur ich – und obwohl ich zwar keinen Berg zum Besteigen habe, bleibt mir noch immer der Bach, der in meinem Hinterkopf friedlich vor sich hinrauscht. 
Wenn du selbst betroffen bist oder jemanden kennst, die oder der Opfer häuslicher Gewalt ist, kannst du dich beispielsweise unter der Nummer 08000 116 016 oder per Online-Beratung an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ wenden – ein vertrauliches, kostenfreies 24-Stunden-Beratungsangebot, das anonyme, mehrsprachige und barrierefreie Unterstützung bietet. Eine Liste mit weiteren Ansprechpartnern findest du hier.

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