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Dank Corona ist meine Kaufsucht schlimmer denn je

Foto: Anna Jay
Als im vergangenen Jahr zur sozialen Isolation aufgerufen wurde, scrollte ich mich erstmal durch alle Social-Media-Kanäle. Ich wollte sehen, wie meine Freund:innen darauf reagierten; was würde das für ihre Jobs, die Versorgung ihrer Kinder, ihre Beziehungen, ihre geistige Gesundheit bedeuten? Insgeheim hoffte ich auch, nicht die Einzige zu sein, die wegen dieser plötzlich unsicheren Zukunft in Panik geriet.
Während ich mich also durch Instagram scrollte und mir die Captions durchlas, in denen wild spekuliert wurde, wie die Quarantäne für uns alle aussehen könnte, blieb ich bei einem Bild eines Kleides hängen. Es war lavendelfarben und mit ganz zarter Spitze verziert, so à la Bridgerton, bevor wir Bridgerton überhaupt kannten. In diesem Moment wurde die Unruhe, die  mir die Vorstellung der sozialen Isolation mit meinen Kleinkindern und meinem Mann bereitete, schlagartig durch Euphorie ersetzt. Bestimmt würde mir der Lifestyle einer angestellten Mutter ohne Kinderbetreuung in so einem Kleid viel leichter fallen. 
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Also kaufte ich es mir – und wenn es dabei geblieben wäre, hätte ich mir darüber auch nicht weiter Gedanken gemacht. Ist schließlich nichts dabei, sich in einer Krisenzeit was Schönes zu gönnen, oder? (Natürlich könnten wir jetzt über die schädlichen Nebenwirkungen einer kapitalistischen Gesellschaft diskutieren, die uns den Glauben vermittelt, unser Selbstwertgefühl und unsere Zufriedenheit seien direkt an das gekoppelt, was wir uns kaufen (können). Aber das lassen wir jetzt besser.) Jedenfalls wäre das Kleid dann irgendwann bei mir angekommen und ich hätte mich bestimmt eine Weile daran erfreut – ganz harmlos also. Soweit die Theorie. 
Als jemand mit einer jahrzehntelangen Kaufzwangsvergangenheit – auch bekannt als Oniomanie – war dieser Spontankauf in meinem Fall aber ein kleiner Vorgeschmack darauf, was im selben Jahr noch auf mich zukommen würde. Etwa zehn Monate, bevor Corona unser aller Leben veränderte, war ich wegen meiner generellen Angststörung und deren Zusammenhang mit meinem Kaufverhalten wöchentlich in Therapie. Nach einer ordentlichen Portion Skepsis hatte ich mich irgendwann sogar auf eine Hypnotherapie eingelassen und war überzeugt davon, Fortschritte zu machen.
Aber wie hatte mein Kaufverhalten vor dieser Therapie überhaupt ausgesehen? So: Ein Großteil meines Einkommens ging zum Beispiel für ausgedehnte Online-Shopping-Sessions bei ASOS oder ein neues Paar Dr. Martens drauf – ganz egal, ob gerade wichtige Rechnungen ausstanden oder eins meiner Kinder neue Klamotten brauchte. Durch die Therapie hielt ich meine Ausgaben jetzt geringer, indem ich Artikel zum Beispiel tagelang in meinem digitalen Einkaufswagen liegen ließ, bevor ich auf „Kaufen“ klickte, um herauszufinden, ob ihr Reiz nach der ersten Begeisterung verfliegen würde. Außerdem hielt ich mich bewusst davon ab, mich von Instagram-Werbung ködern zu lassen, und schloss die App, wenn mich doch mal irgendwas in seinen Bann zog. Um mich abzulenken, ging ich spazieren, schaute mir einen Film an oder spielte mit meinen Töchtern.
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Als Corona kam, verbrachte ich (gemeinsam mit dem Großteil der Weltbevölkerung) aber plötzlich viel mehr Zeit im Internet – insbesondere mit Online-Shopping. Dasselbe Verhalten, das mich vorher in tiefe Schulden gestürzt und andere, ernstere geistige Probleme nur noch verfestigt hatte, wurde mir plötzlich von meiner eigenen Regierung ans Herz gelegt. Und ohne die Hilfe meiner Therapeutin (die seit vergangenem März im Zwangsurlaub ist) bin ich wieder in alte, toxische Zwangsverhaltensmuster abgerutscht – und damit bin ich leider längst nicht alleine.
Zwar gibt es keine offizielle Statistik zu den Zahlen der Kaufsüchtigen in Deutschland, Expert:innen gehen aber von bis zu 800.000 Betroffenen aus, Tendenz steigend. Diese Störung erklärt Pamela Roberts, Suchtbeauftragte der britischen Priory-Therapieklinik, so: „Betroffene der Oniomanie fühlen sich komplett von dem Zwang gesteuert, einkaufen und Geld ausgeben zu müssen – entweder für sich selbst, oder in Form zahlreicher Geschenke für andere.“ Wie diese Sucht dann letztlich aussieht, ist völlig individuell – auch im Zusammenhang mit Corona. Das Priory Hospital hat die diversen Auswirkungen von COVID-19 auf die Kaufsucht genauer untersucht und beschreibt sie folgendermaßen: Einige Betroffene seien durch die Pandemie vielleicht zu der Einsicht gekommen, zu viel zu konsumieren und sich „jetzt abgesehen von wichtigen Käufen völlig zurückhalten zu wollen, mit Ausnahme des gelegentlichen Luxuskaufs“. Andere wiederum, meint die Klinik, achten jetzt mehr denn je darauf, mit ihrem Kaufverhalten zumindest den örtlichen Einzelhandel zu unterstützen, um „nachhaltiger zu konsumieren“. Und da in vielen Haushalten durch die derzeitige Wirtschaftssituation das Geld auch nicht so locker sitzt wie vorher, fühlen wir uns wohl momentan alle dazu bewegt, unsere Ausgaben etwas aufmerksamer im Blick zu haben.
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Anders sieht es aber bei besonders stark vom Kaufzwang Betroffenen wie mir aus, meint Roberts. Laut ihr sind wir „derzeit ordentlich am Shoppen“, sagt sie, und das hat gute Gründe. „Für Shoppingsüchtige ist der Einkauf wie Medizin – wie eine vorübergehende Verschnaufpause von Stress, Unruhe, Einsamkeit oder Angst, zum Beispiel, auf die meist Schuld- und Schamgefühle folgen.“
Ertappt. Und das geht nicht nur mir so; Carolyn aus Nordengland schreibt Refinery29, dass sie schon unter dem Kaufzwang leidet, seit sie 13 war und die Sucht noch mit ihrem Taschengeld finanzierte. „Ich glaube, die Ursachen dafür waren sehr komplex, aber ich habe seit meinem 12. Lebensjahr stark mit meiner geistigen Gesundheit zu kämpfen – vermutlich wegen der sehr üblen Scheidung meiner Eltern – und nehme daher schon seit damals Medikamente. Erst letztens wurde mir eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung diagnostiziert, und die erklärt eine ganze Reihe Verhaltensprobleme von damals“, erklärt sie und erzählt mir, wie es ihr während der Pandemie mit ihrer Kaufsucht geht. „Ich habe im vergangenen Jahr Tausende Pfund ausgegeben. Dass ich nicht in den Urlaub fliegen oder im Restaurant essen konnte, hat mir finanziell gar keine Ersparnisse eingebracht. Jeden Tag verbringe ich mehrere Stunden damit, mich ziellos durchs Netz zu scrollen und zu shoppen, immer auf der Suche nach dem nächsten Dopamin-Kick.“
Und das ist ziemlich verständlich, finde ich, wenn man bedenkt, dass andere Methoden zur Glückshormonausschüttung (wie ein Live-Konzert, Sport im Fitnessstudio oder auch einfach schöne IRL-Treffen mit Freund:innen) gerade entweder gar nicht oder nur schwer machbar sind. Kein Wunder also, dass wir Oniomanie-Betroffenen uns dazu wieder dem Shopping zuwenden – vor allem, weil es, wie jede Sucht, ein Bewältigungsmechanismus sein kann, wie zum Beispiel für Angststörungen, Depressionen oder Platzangst.
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Für Ratnadevi Manokaran aus Malaysia hat dieser Shoppingwahn im Lockdown auch ganz konkrete Gründe: Sie hat das Gefühl, momentan einfach mehr Zeug zu brauchen. „Ich brauche Sachen für den Haushalt, Sportklamotten, Malfarbe, Bastelzeug; einfach alles, was mich irgendwie ablenkt“, sagt sie. „Über diese Sachen stolpere ich einfach beim Browsen. Da sehe ich dann zum Beispiel auf TikTok irgendwen etwas benutzen und denke mir sofort: ‚Oooh, das brauche ich auch!‘ Das kann Geschirr sein, oder vielleicht hübsche Platzdeckchen“, erzählt sie. „Ich stand vorher nie so auf Einrichtungsgegenstände; jetzt will ich meiner Wohnung bzw. meinem Alltag aber mehr Bedeutung und Schönheit einhauchen, weil ich so viel Zeit zu Hause verbringe.“
Um diese Sucht einzugrenzen, hat Manokaran sich aber ein paar Regeln zur Handynutzung ausgedacht. „Ich scrolle mich nicht durch Social Media, bevor ich morgens noch nicht meditiert, mein Bett gemacht, gebetet und gefrühstückt habe, und dasselbe gilt auch andersrum für den Abend. Ich habe gemerkt, dass das mein impulsives Kaufverhalten reduziert hat; meistens shoppe ich nämlich abends, wenn mir langweilig ist, oder wenn ich was Schönes bei Instagram gesehen habe“, sagt sie. „Außerdem zwinge ich mich dazu, ein bis zwei Tage zu warten, bevor ich wirklich etwas kaufe, und was Haut-, Körper- oder Haarpflege angeht, warte ich damit, bis die Produkte alle sind, die ich schon habe. Was Klamotten angeht, hilft es mir, dass ich gerade eh 95 Prozent der Zeit zu Hause verbringe und gar keine neue Kleidung brauche. Stattdessen kaufe ich, wenn überhaupt, Secondhand-Klamotten, und auch nur, wenn ich sie brauche und weiß, dass ich die immer wieder tragen werden. Ich freue mich auch gar nicht mehr auf Kleidung, die ich nur einmal trage.“
Bei alldem ist auch wichtig, im Kopf zu behalten, dass es noch andere Methoden gibt, Glückshormone auszuschütten, anstatt dich dazu immer auf den Klick auf „Jetzt kaufen“ zu verlassen – und viele davon sind auch im Lockdown möglich. Sport, mehr Protein, genug Schlaf, Meditation und Musik gibt’s auch in den eigenen vier Wänden. Und wenn alles nichts hilft, kannst du ja immer noch den Router ausschalten.

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