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Meine chronische Krankheit wurde nur ernst genommen, als ich noch mager war

Foto: Poppy Thorpe
„Du siehst so krank aus, du Arme“, schallte es mir von Freund:innen und Verwandten entgegen, während sie ihre Gesichter zu besorgten Mienen verzogen. Ich war damals 19 und hatte gerade meine Diagnose bekommen: Colitis ulcerosa – eine chronisch-entzündliche Darmkrankheit mit Geschwüren im Dickdarm.
Ich war damals schon seit Jahren untergewichtig, was durch die Krankheit nur schlimmer wurde; irgendwann bildeten sich nämlich Löcher in meiner Darmwand, und mein krankes Organ konnte Nährstoffe nicht mehr so gut aufnehmen. Sprich: Ich konnte gar nicht zunehmen. Erst als mir der Dickdarm entfernt wurde, konnte sich mein Körper wieder holen, was er brauchte. Ganz so einfach war das aber nicht; zuerst musste mir ein künstlicher Darmausgang (ein sogenannter „Stoma“) gelegt werden, der mir zwar das Leben rettete, aber weder emotional, geistig noch körperlich leicht zu akzeptieren war. Zehn Monate später folgte dann eine OP, bei der mein Dünn- mit meinem Enddarm verbunden wurde, wodurch ich wieder „normal“ aufs Klo gehen können sollte. Trotzdem würde ich mein Leben heute als alles andere als normal bezeichnen.
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Erstens bin ich quasi ans Haus gefesselt; ich habe chronischen Durchfall, weswegen ich so oft auf die Toilette muss, dass ich mich in Gesellschaft unruhig fühle und es hasse, an unbekannten Orten zu sein – weil ich immer Angst davor habe, spontan mal kein Klo zu finden. 
Meine Krankheit beeinflusst also alleine deswegen schon meine geistige Gesundheit, aber auch meine Ernährung: Mein Körper verträgt kein Obst und Gemüse, und wenn ich sie doch esse, verbringe ich danach mehrere schmerzhafte Stunden auf dem Klo. Daher kann ich nur Schweres, langsam Verdauliches essen – und habe dadurch stark zugenommen. Zusammen mit der gewichtssteigernden Wirkung der Steroide, die ich zwischendurch immer wieder nehmen musste, kam es, wie es kommen musste: Ich trage jetzt Übergrößen – was mir übrigens gar nichts ausmacht. Was mich aber sehr wohl stört, ist, wie anders ich in Bezug auf meine Gesundheit jetzt behandelt werde, verglichen mit damals, als ich noch untergewichtig war. 
Ich weiß noch, wie oft mir damals von allen Seiten gesagt wurde, ich sollte am besten besonders große Mahlzeiten essen. Dass mir mein Untergewicht nicht „stand“. Dass ich zunehmen sollte, weil ich nicht wie ich selbst aussah. Meine Darmerkrankung brachte mir jede Menge Mitleid und besorgte Blicke ein. Bei Arztterminen wurde ich ernst genommen, und ich bekam innerhalb kürzester Zeit direkt alle möglichen Untersuchungen und Behandlungen verschrieben. Jetzt, wo ich dick bin, sieht die Welt aber ganz anders aus.

Sobald ich die Praxis auch nur betrete, muss ich mir Kommentare wie „Sie sehen aber gut ernährt aus“ anhören. Die Gedanken dahinter durchschaue ich sofort.

Heute bin ich 25 und habe zwischendurch noch immer stark mit Symptomen zu kämpfen – mit chronischem, übermäßigem Durchfall, Magenschmerzen und Rektalblutungen. Und obwohl ich seit rund zwei Jahren immer wieder um medizinische Hilfe gefleht habe, habe ich keine Untersuchungen oder Eingriffe verschrieben bekommen, um nach Anzeichen einer Entzündung zu suchen. Stattdessen haben mir meine Ärzt:innen Einläufe aufgehalst, und ich landete einige Male in der Notaufnahme, wo mir von Pflegekräften mitgeteilt wurde, meine Symptome sollte sich dringend mal jemand genauer ansehen. Abgesehen davon, dass ich mir dann in der Apotheke aber schön meine Medikamente abholen durfte, wurde auch aus diesen Empfehlungen nichts weiter – die Pflegekräfte hatten nicht die Berechtigung, um mich an Spezialist:innen zu überweisen, vor allem, weil ich davon ja eigentlich schon welche hatte. 
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Entzündliche Darmerkrankungen verlangen aber die Behandlung durch Spezialist:innen. Und obwohl ich schon diverse Beratungsgespräche hatte, seitdem ich an Gewicht zugenommen habe, werde ich das Gefühl nicht los, dass man mich dabei viel, viel weniger ernst nimmt als damals, als ich noch dünn war. Sobald ich die Praxis auch nur betrete, muss ich mir Kommentare wie „Sie sehen aber gut ernährt aus“ anhören. Die Gedanken dahinter durchschaue ich sofort: Wow, du hast aber einiges auf den Rippen. Kann ja gar nicht sein, dass es dir aus medizinischer Sicht wirklich schlecht geht.
Ich verstehe ja auch, woher diese Skepsis kommt: Entzündliche Darmerkrankungen gehen normalerweise Hand in Hand mit starkem Gewichtsverlust. Wenn du also nicht total mager bist, giltst du nicht als Sorgenfall – aber Mitgefühl oder Verständnis gibt’s dann auch keins. Und auch fernab der Arztpraxen ist mein Gewicht oft ein Thema: Wenn ich von meinen Symptomen erzähle, bekomme ich von meinem Umfeld zu hören, ich sollte weniger essen oder Durchfall-Hemmer nehmen – und dass es mir ja doch viel besser ginge als früher, als ich noch so dünn war. 
Wenn ich ehrlich bin: All das hat dafür gesorgt, dass ich mich als Plus-Size-Person mit meiner Darmkrankheit wie eine Heuchlerin fühle. Dabei ändert mein Gewicht ja nichts an meiner Erkrankung, die niemand ernst zu nehmen scheint. Und trotzdem bestimmt mein Aussehen, wie mich andere behandeln. Gewichtsdiskriminierung und Fatshaming sind echt, und diverse Studien haben schon bewiesen, dass Übergewicht in unserer Gesellschaft stigmatisiert wird. Wer als übergewichtig gilt, wird weniger ernst genommen und für weniger kompetent gehalten. Dünne Menschen machen zumindest dem Vorurteil vieler Leute nach alles richtig. 
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Es ist genau diese Einstellung, die mir das Gefühl gibt, ich sei nicht „krank genug“. Manchmal bin ich deswegen sogar richtig wütend auf meinen Körper, weil er nach außen hin nicht zeigt, was andere scheinbar sehen können müssen, um mir zu glauben. Wenn ich mir andere Patient:innen mit derselben Krankheit anschaue, die auch nach Jahren noch kein Kilo zugenommen haben, rede ich mir teilweise selbst ein, ich sollte mich gar nicht beschweren dürfen – bis ich dann doch wieder mein Blut im Klo sehe.

Es fühlt sich absurd an, hier von „zum Glück“ zu sprechen, aber zum Glück hatte ich zurecht gefleht, gebettelt und geweint.

Dann, vor ein paar Monaten – nach Jahren der flehentlichen Emails und Anrufe, nach zahllosen Arztterminen und Ausflügen in die Notaufnahme, nach endlosen Bitten um Überweisungen –, bekam ich endlich die Hilfe, auf die ich so lange hatte warten müssen, geschlagene sechs Jahre nach meiner ersten Diagnose und Operation: Man gab mir einen Termin zur Untersuchung.
Ich weiß noch, wie unruhig ich dabei war. Ich hatte Angst, wieder nur auf meinen Körper reduziert zu werden, anstatt mit meinen Sorgen auf ein offenes Ohr zu stoßen. Ich bekam eine Sigmoidoskopie (eine „kleine“ Darmspiegelung des Dickdarms) und war vorher ganz panisch: Was, wenn die Kamera oder die Gewebeprobe nichts ergab? Ganz recht – mein Impostorsyndrom war schon so stark, dass ich meine eigene Krankheit anzweifelte.
Dabei wusste ich ja, dass mit mir etwas nicht stimmte und die Testergebnisse das auch bestätigen würden; ansonsten hatte ich nichts in der Hand. Es fühlt sich absurd an, hier von „zum Glück“ zu sprechen, aber zum Glück hatte ich zurecht gefleht, gebettelt und geweint: Die Untersuchung bewies eine Entzündung in meinem Enddarm. Jetzt werde ich noch auf Gallensäuremalabsorption getestet – also darauf, ob mein Darm Gallensäure nicht richtig aufnimmt, wodurch überschüssige Säure zu wässrigem Durchfall führen kann. 
Plötzlich geht alles ganz schnell. Und ich frage mich: Wieso jetzt erst? Wieso hat mir nicht schon vorher jemand geglaubt? – und ob man mich vielleicht ernster genommen hätte, wäre ich noch immer ungesund dünn. Ich wünschte mir, Colitis ulcerosa würde nicht so stark mit Gewichtsverlust, sondern auch mehr mit ihren anderen Symptomen assoziiert. Und ich wünschte mir, mehr Leute würden begreifen, dass auch Gewichtszunahme ein Anzeichen für eine Darmerkrankung sein kann, wie diese Studie beweist. Der Irrglaube, alle Menschen mit einer entzündlichen Darmkrankheit seien zwangsläufig dünn, muss endlich weg. Er erfüllt nämlich nur einen Zweck: das Leid übergewichtiger Kranker zu stigmatisieren.

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