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Arm in Deutschland: Die Scham, #unten zu sein

Armut und Deutschland. Das sind zwei Begriffe, die man ziemlich selten miteinander in Verbindung bringt. Schließlich leben wir in einem der reichsten Länder der Welt, oder? Wir haben doch einen funktionierenden Sozialstaat, oder? Hier muss doch niemand hungern, oder? Und selbst wenn: Dann ist das auf jeden Fall selbstverschuldet. Oder?

Deutsche Armut ist meist unsichtbar

Dass dieses Denken nach wie vor vorherrscht, hat seine Gründe. Seit knapp einer Woche schreiben Tausende unter dem Hashtag #unten dagegen an. Denn Armut ist auch deutscher Alltag. Sie sieht hier nur anders aus, als wir sie uns vorstellen: Armut in Deutschland ist nicht nur der Obdachlose auf der Parkbank. Armut ist oft unsichtbar. Im doppelten Sinn: Denn einerseits sieht man die Armut den Menschen meist nicht an – und andererseits macht sie die Betroffenen selbst politisch unsichtbar.
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Der Armutsdiskurs in Deutschland verlangt diese Unsichtbarkeit. Das neoliberale Mindset, mit dem unser Denken quasi als Werkseinstellung ausgestattet ist, besagt, dass jeder Mensch den Aufstieg schaffen kann, wenn er sich nur genug anstrengt – work hard, play hard, vom Tellerwäscher zum Millionär, friss’ oder stirb! Wer arm ist, der hat sich nicht genug angestrengt. Studien belegen allerdings, dass dieses Denken falscher nicht sein könnte.

Wer arm ist, bleibt arm

In Deutschland ist knapp jede fünfte Person von Armut betroffen. Das sind zwanzig Prozent der Bevölkerung – knapp 16 Millionen Menschen. Das bedeutet, dass er oder sie von weniger als Tausend Euro im Monat leben muss. Diese Quote steigt trotz Wirtschaftsaufschwung und immer niedrigerer Arbeitslosenquote seit den Siebzigern beinahe ungehindert. Das bedeutet: Auch wenn man nicht arbeitslos ist, ist der soziale Aufstieg und der Weg heraus aus prekären Verhältnissen extrem schwierig. Und es wird immer schwieriger. Der Satz „wer arm ist, bleibt auch arm“ war noch nie so wahr wie heute.
Woran liegt das? Der Anstieg der dauerhaften Armut hat vor allem mit Migration zu tun: Für Zuwanderer wird quasi ein Platz im Niedriglohnsektor freigehalten. Es wird von ihnen erwartet, erst mal arm zu sein. Und der Weg heraus aus der Armut ist schwierig. Außerdem sind Frauen öfter von Armut betroffen als Männer, weil sie oft als Mütter doppelt belastet sind. Und: Armut ist in Ostdeutschland immer noch ein größeres Problem. Dauerhafte Armut kommt in den neuen Bundesländern sechsmal häufiger vor als in den alten.

Kevin und Jaqueline

Die Zahlen bestätigen also: Man kann sehr hart arbeiten und bleibt trotzdem arm. Es gäbe also eigentlich keinen Grund, sich für die eigene Armut zu schämen. Zumindest, wenn man nach der vorherrschenden – aber sehr fragwürdigen – Logik geht, dass man nur etwas wert ist, wenn man ein möglichst produktiver Teil der Gesellschaft ist und sich in einer 40-, 50- oder 60-Stunden-Woche kaputt ackert. Und trotzdem ist Armut nach wie vor mit sehr viel Scham behaftet – besonders, wenn sie mit Arbeitslosigkeit einher geht.
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Arbeitslose gelten nach wie vor als faule, dumme Sozialschmarotzer. Als Parasiten, die auf Kosten anderer den ganzen Tag vor Trash-TV mit Dosenbier auf der Couch verbringen. Ganze Karrieren bauen auf diesem Klischee auf: Cindy aus Marzahn, TV-Formate wie „Mitten im Leben“ oder Frauentausch – und auch scheinbar politisch aufgeklärte Figuren wie Jan Böhmermann machen sich regelmäßig über die Kevins und Jaquelines Deutschlands lustig. Der Zentralrat der Fliesentischbesitzer ist empört. Fühlt ihr euch auch ertappt?
Diese Arbeitslosen gibt es. Um sicher zu stellen, dass das auch jeder weiß, macht beispielsweise die Bild-Zeitung immer wieder groß aufgezogene Stories um Sozialschmarotzer wie „Florida-Rolf“ im Jahr 2003, der sich in Miami mit deutscher Sozialhilfe „ein schönes Leben macht“. Dass er unter einer Bauchspeicheldrüsenerkrankung und unter psychischem Problemen litt, wurde höchstens in Nebensätzen erwähnt. Auch, wenn Klischees wie das des faulen, dummen Arbeitslosen das Leben einfacher machen: Es ist in Wahrheit immer etwas komplexer. Ja, es gibt diese Menschen. Nein, sie sind nicht einfach nur faul und dumm.
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Was ist Klassismus?

Diese Form der Marginalisierung nennt man Klassismus: Die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. Anders als seine Cousinen Rassismus, Sexismus oder Homophobie ist sie gesellschaftlich noch ziemlich akzeptiert und wird selten öffentlich angeprangert. Das ist fatal. Es ist der Grund, wieso Kevin bei gleicher Leistung schlechtere Noten bekommt als Jakob, wieso uns als Kindern beigebracht wird, Obdachlosen kein Geld zu geben und RTL nach all den Jahren nach wie vor erfolgreich Reality-TV produziert, das auf bloßen Voyeurismus der „Dummen und Armen“ aufbaut.
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Und: Oft geht Klassismus mit anderen Formen der Diskriminierung Hand in Hand und befördert Menschen so mit doppelter Geschwindigkeit ins Abseits. Das lässt sich gerade in der Flüchtlingsdebatte live beobachten: Hier begünstigt die Kombination aus Islamophobie, Rassismus und Klassismus einen Shift im Bild des Sozialschmarotzers. Denn plötzlich haben Menschen, die selbst von Klassismus betroffen sind, die Möglichkeit, noch weiter nach unten zu treten: Und bezeichnen nun Geflüchtete als ungebildete Parasiten und Ausbeuter des Sozialstaats. Es ist verlockend, endlich eine Macht ausüben zu können, die einen selbst ein Leben lang gebeutelt hat.

#unten war lange überfällig

Es ist also kein Wunder, dass man sich auch 2018 noch für das arm sein schämt – auch, wenn man sich täglich kaputt arbeitet, um das zu ändern. Ein Leben in Armut ist ein Leben in Scham. Das muss sich endlich ändern. Ähnlich wie bei #metoo und #metwo gibt nun der Hashtag #unten – initiiert vom Freitag – endlich den Menschen eine Stimme, die sonst nie zu Wort kommen, wenn statt ihnen Anzug tragende Männer in Talkshows über Armut sprechen: Die Betroffenen.

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