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Bittersüßer Abschied: Meine letzte Periode als trans Mann

Foto: Ruby Woodhouse.
Der altgriechische Begriff „Katharsis“ bedeutet so viel wie „emotionale Reinigung“. Der Philosoph Aristoteles nutzte ihn in seiner Poetik als Metapher für das Ablegen von Gefühlen – eine Wirkung, die das Miterleben einer Tragödie auf den Körper haben kann. In der medizinischen Fachsprache bedeutet „Katharsis“, den Körper bei der Menstruation von Blut und anderem Gewebe aus der Gebärmutter zu befreien. 
Ob nun metaphorisch oder bei der Menstruaton: Die Katharsis ist ein emotionaler Zustand, der zur Erneuerung führt. 
Ich nehme seit etwas über einem Jahr synthetisches Testosteron, und obwohl ich mich inzwischen ganz gut daran gewöhnt habe, mir vier Pumpstöße eines alkoholgetränkten Gels auf meine Schultern oder Oberschenkel zu reiben, habe ich gerade erst mit der Menstruation aufgehört. Diese neue Normalität bedeutet für mich nicht endende Zyklen: Ich habe keine „Katharsis“ mehr, und begreife gerade erst, was das für eine riesige Veränderung ist. 
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Mein Dad platzt verlegen in den Zoom-Call.
Es ist die siebte Woche des Philosophie-Seminars, das meine Familie und ich zusammen besuchen. Ich erinnere meine Mum schnell via WhatsApp daran, ihm zu sagen, dass er sein Mikrofon auf „stumm“ stellen soll, wenn er nichts sagen möchte. Er hat noch nicht den richtigen Winkel für Calls von seinem iPad gefunden – oder es ist ihm egal –, deswegen bekommen wir von ihm nur Nasenlöcher und eine faltige Stirn zu sehen.
In den ersten zehn Minuten des Seminars erfahren wir, dass der Begriff „Tragödie“ aus zwei altgriechischen Wörtern zusammengesetzt ist: „tragos“ für „Ziege“, „oide“ für „Lied“. Eine Anspielung auf ein Lied für eine Ziege, die vor rund 2.000 Jahren geschlachtet wurde. Mein Blick schweift über das Chaos in meinem Notizbuch. Ich habe geschrieben: Warum?! Gefällt es uns so gut, etwas Verängstigendes zu sehen?
Wir besprechen die Geschichte von Ödipus, einem vom Pech verfolgten Charakter der griechischen Mythologie, der schließlich seinen Vater tötete und seine Mutter heiratete.
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Eines der ersten Dinge, über die ich mir Gedanken machte, nachdem ich mich für eine medizinische Transition entschieden hatte, war der Verlust meiner Periode – des monatlichen Kreislaufs, der mich bisher durch die Höhen und Tiefen meiner Psyche navigierte. Meine erste Reaktion auf die Vorstellung eines blutungsfreien Lebens, befreit von den Fesseln der Hygieneprodukte und fleckigen Unterwäsche, war pure Vorfreude. Schließlich war mir meine Periode inzwischen nur noch unpraktisch vorgekommen.
Einige Leute fragten mich, ob ich meine Eizellen einfrieren lassen würde. Diese Frage löste in mir eine Mischung aus Panik und Trauer aus, die mich bis heute verstört. Ich las mir pflichtbewusst alles darüber durch, wie das mit der Einnahme und dem Absetzen von Testosteron so ablief, bat meine Freund:innen um ihren Rat zur queeren Familiengründung. Schließlich stellte ich mich auf einen Abschied ein: Ich nahm mir vor, nicht schwanger zu werden. Es dauerte mehrere Monate, bis ich mich wirklich damit abfand. 
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Anstatt monatlich zu bluten, nehme ich jetzt Tabletten gegen Wassereinlagerungen ein, um meine wurstdicken Finger abschwellen zu lassen (Testosteron kann aufblähend wirken). Ich habe das komische, aber nicht schmerzhafte Gefühl, dass mir etwas fehlt, irgendwo in der Gebärmuttergegend. Um es abzuschütteln, stürze ich mich in meine Fitness-Routine. Es ist seltsam, viele meiner Klamotten nicht mehr tragen zu können.
Es hallt in mir wider, ein Echo des Eisprungs, den ich nicht mehr habe. Die Eizellen sind aber immer noch da. Ich stelle mir vor, wie sie gegen meine Gebärmutterwände prallen. Testosteron kann die Fruchtbarkeit hemmen, zerstört aber keine Eizellen. Die verschwinden nicht einfach, sondern sind in einen hormonellen Mantel gehüllt – konserviert. Die Testosteroneinnahme setzt dem Eisprung ein Ende.
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In unserem Philosophiekurs lernen wir von der Meta-Reaktion: dem Mitgefühl, der Kameradschaft und Zusammengehörigkeit, die wir erleben, wenn jemand anderes etwas Schlimmes erleidet. Dabei erkennen wir unterbewusst an, dass unsere Reaktion auf eine Tragödie eine geteilte menschliche Erfahrung ist.
Im alten Griechenland wurde das Publikum oft als Teilnehmer:innen in Tragödien miteinbezogen. Indem es Motive der menschlichen Natur behandelte, erlaubte das Drama seinem Publikum, über soziale, politische und religiöse Werte nachzudenken. 
Mein Dad schaltet sich erst auf „stumm“, dann wieder auf „laut“ – aus Versehen, glaube ich. Als einzige AMAB-Person („assigned male at birth“, also „bei der Geburt als männlich klassifiziert“) in der Gruppe frage ich mich, wie seine Meta-Reaktion wohl aussieht, während sich unser Gespräch der geteilten, schmerzhaften Erfahrung zwischen Menstruierenden zuwendet.
Obwohl er selbst nie Ähnliches erfahren wird wie das Gefühl, sich vor Unterleibsschmerzen am nächsten Türrahmen festhalten zu müssen, bin ich mir sicher, dass ihm seine Vaterschaft von zwei AFAB-Kindern („assigned female at birth“, also „bei der Geburt als weiblich klassifiziert“) ein viel nuancierteres Verständnis geschenkt hat, als ich ihm zugetraut hätte.
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Ich begreife, dass seine Stille kein Desinteresse signalisiert, sondern eine Abwesenheit. In der Vergangenheit haben meine Schwester und ich ihm den Zutritt zu unseren emotionalen Achterbahnen verwehrt und einander hinter zugeknallten Türen getröstet.
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So oft geht es in den Geschichten rund um medizinische Transitionen um das Leid der Person, die sich darauf einlässt und daraufhin mit gesellschaftlicher Feindseligkeit und hormonellen Grenzen konfrontiert wird, mit der Doppellast aus Traumata und Stigmata auf den Schultern. Und in gewisser Hinsicht ist diese Geschichte auch wahr. Ich schätze, die meisten Leser:innen dieser Storys reagieren mit einem „Gott sei Dank!“ auf diese Erzählungen – dankbar dafür, dass das nicht ihrer gelebten Erfahrung entspricht.
Trans Narrative fallen schon seit langer Zeit ins Tragödien-Genre.
Dabei ist meine eigene Erfahrung mit meiner Transition, mit der Einnahme synthetischen Testosterons, gar nicht so finster, sondern deutlich vielseitiger. Zu jedem Verlust gehört natürlich eine gewisse Trauer, mit der ich dennoch nicht gerechnet hatte; ich hatte ausschließlich Freude erwartet. Was ich heute empfinde, würde ich als „bittersüß“ einordnen – ich bin traurig und glücklich zugleich.
Jeden Monat nimmt dieses Gefühl des Vermissens in mir zu und wieder ab, doch setzt sich meine Perioden-App nicht auf den Zyklusbeginn zurück. Ich versuche zu verstehen, wie ein „Zyklus“ jetzt für mich aussieht. Wie soll ich diesen monatlichen Vorgang eines Endes und eines Neuanfangs verarbeiten, ganz ohne Wärmflasche, eine Zehnerpackung Ibuprofen und eine Binde in meinen genderneutralen Boxershorts?
Nachdem ich mein gesamtes Erwachsenenleben daran gewöhnt war, Blut und Gewebe zu beseitigen und körperlichen „Ballast“ abzuwerfen, um von vorn zu beginnen, weiß ich nicht, wie ich das Anschwellen bewältigen soll, das mich dennoch jeden Monat ereilt. Wie erleben transmaskuline Menschen Katharsis, ohne auf eine blutige Tragödie in einer Kloschüssel herabzuschauen? Muss ich jetzt einfach dieses Leben hinnehmen, das ohne binäre Extreme auskommt, und mich stattdessen mit dem Wissen abfinden, dass ich mich bewusst gegen den Zyklus entschieden habe, der so intim mit dem Gender zusammenhing, das mir bei meiner Geburt aufgedrückt wurde?
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Versteh mich nicht falsch: Es ist wirklich ein befreiendes Gefühl, meine weißen Jeans zu tragen, wann immer ich gerade Lust darauf habe, während ich mein bestes trans Leben als Teenager-Junge lebe und erstmal auf Genderrollen scheiße.
Worum ich heute trauere, ist vielleicht gar nicht der Verlust der Menstruation an sich. Viele Körper menstruieren gar nicht. Vielleicht geht es mir mehr um den Verlust der energetischen, emotionalen Verarbeitung, die dir eine Periode gewährt. Und womöglich sogar um das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit anderen Menstruierenden.
Das wirft die Frage auf, wie wir Körper in unserer Mitte aufnehmen sollen, die vielleicht nicht dieselbe gelebte Erfahrung teilen und „nur“ mit Mitgefühl und Empathie auf unsere Erfahrung reagieren können. Wenn uns die Beliebtheit von Tragödien im Laufe der Jahre eines gelehrt hat, dann, dass es nicht funktioniert, andere wegen ihrer Unterschiede auszuschließen. Sie stattdessen in den Prozess der Katharsis miteinzubeziehen, bildet sie und verbessert das Gefühl der Menschlichkeit, Solidarität und Zusammengehörigkeit. So brutal es sich vielleicht anhört: Im Schmerz von anderen zusammenzufinden – wie im alten Griechenland –, fördert Verständnis. Für weniger Ignoranz – und mehr Akzeptanz. 

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