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„Strategische Zustimmung“ – wenn ungewollter Sex zur Überlebensfrage wird

Foto: Anna Jay.
Warnung: Der folgende Artikel enthält Beschreibungen von häuslicher Gewalt, die manche Leser:innen verstören könnten.
Es folgt ein Auszug aus dem Buch Rough von Rachel Thompson.
Als Philippa* 21 Jahre alt war, war sie in einer missbräuchlichen Beziehung mit einem Mann. Sie hatte Sex mit ihrem Freund, weil er dann aufhören würde, sie verbal zu missbrauchen und körperlich anzugreifen. „Er hat mich nie vergewaltigt. Er hat auch nicht versucht, mich zum Sex zu zwingen, wann immer ich ihm sagte, dass ich nicht mit ihm schlafen wollte“, erklärt sie.
„Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich ziemlich viel Sex mit ihm hatte, auf den ich liebend gerne verzichtet hätte. Oft schlief ich bloß mit ihm, weil er nach dem Kommen einschlafen würde. Mit der Zeit hatte ich herausgefunden, dass ich ihn so dazu bringen konnte, endlich seine Klappe zu halten und mich in Ruhe zu lassen. Sex mit ihm zu haben, war eine Möglichkeit für mich, Wutausbrüchen, Bedrohungen und Angriffen auf mich zu entkommen (zumindest vorübergehend). Mit ihm zu schlafen – auch wenn ich es nicht wollte –, gab mir eine Pause von dem Horrorfilm, zu dem meine Beziehung geworden war. Damals musste ich also versuchen, diesen Kerl, den ich hasste, zu ‚verführen‘, während er mich ‚Schlampe‘ nannte und mich schubste oder was auch immer ihm gerade einfiel, und ich musste daliegen und das Ganze über mich ergehen lassen, um zumindest vorübergehend etwas Ruhe zu haben.“
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Zum Glück gelang es Philippa, sich aus dieser Beziehung zu befreien, indem sie ihren Partner dazu brachte, mit ihr Schluss zu machen. „Eines Nachts schlug er mich ziemlich heftig zusammen – mehr als nur ein paar Schläge hier und da wie üblicherweise –, und ich dachte mir: ‚Wenn das so weitergeht, wird er mich eines Tages umbringen.‘ Nachdem ich das realisiert hatte, war ich in den nächsten Monaten so schrecklich und kalt zu ihm, dass er irgendwann ganz einfach nicht mehr mit mir zusammen sein wollte. Das war die sicherere Option, als selbst Schluss zu machen. So war das Ganze schnell beendet, anstatt fünf Jahre lang gestalkt zu werden – oder was auch immer ihm vielleicht in den Sinn gekommen wäre –, um mich nicht zu verlieren.“
Ihr Plan ging auf, denn er machte tatsächlich Schluss mit ihr. Daraufhin zogen zwei ihrer Freund:innen bei ihr ein, und ihr Leben änderte sich drastisch. „Plötzlich war mein Leben nicht mehr schrecklich und beschissen. Auf einmal war ich wieder glücklich, hatte nährende Beziehungen und konnte alles wieder genießen“, sagt sie.
Philippa denkt nicht, dass sie diese furchtbare Erfahrung in Sachen Sex allzu sehr gezeichnet hat. „Natürlich hatte ich jahrelang Albträume. Auch jetzt erschrecke ich noch, wenn sich jemand in einem Film so verhält wie er, oder wenn betrunkene Männer in meiner Nähe anfangen zu schreien. Zumindest ist es ihm nicht gelungen, mir den Spaß am Sex zu nehmen oder mich in Hinblick darauf zu traumatisieren. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass das Menschen in ähnlichen Situationen sehr wohl passieren kann.“
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Unser Fokus auf das binäre Ja/Nein beim Sex verfehlt das wesentliche Thema, bei dem es in diesem Zusammenhang geht.

Nichtsdestotrotz musste Philippa ihre Sexualität als ihre eigene zurückgewinnen. „Ich schätze meine Sexualität/Sinnlichkeit/Sexiness jetzt wirklich immens. Das war aber auch damals schon so und genau das machte mich nur noch wütender auf ihn, denn ich hasste ihn so sehr dafür, dass er mir den Spaß am Sex nahm.“
Nach ihrer Trennung beschäftigte sich Philippa viel mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und las viel über dieses Thema. Im Großen und Ganzen hat sie das Gefühl, sehr gut allein zurechtzukommen. Sie spielt aber mit dem Gedanken, es vielleicht eines Tages mit einer Therapie zu probieren. Philippas Erfahrung ist kein Einzelfall. Mehr als vier von zehn Frauen leben mit der Angst, sich den sexuellen Forderungen ihrer Partner:innen zu widersetzen, und haben das Gefühl, keine andere Wahl zu haben, als zuzustimmen, wie eine weltweite UN-Studie in 52 Ländern ergab.
Wie bei Phillippa handelt es sich hierbei um ungewollten Sex. Diese Art von Sex ist zwar einvernehmlich, aber nicht gewünscht. Wir Menschen haben aus den unterschiedlichsten Gründen Sex. In einer Studie wurden sogar 237 verschiedene Gründe angeführt, aus denen wir mit anderen schlafen – vom selbstlosen Wunsch danach, Partner:innen zu befriedigen, über das Bedürfnis, sich an Partner:innen zu rächen, von denen man betrogen wurde, bis hin zu der grundlegenden menschlichen Sehnsucht danach, körperliches Vergnügen zu erleben. Unerwünschter Sex kann im Rahmen einer gesunden Beziehung vorkommen. Er kann jedoch auch auf umfassendere soziokulturelle Faktoren zurückgeführt werden (wie die Gesellschaftsschicht, der eine Person zugehört, ihr sozioökonomischer Status, ihr Geschlecht und ihre Hautfarbe). Das führt dazu, dass sexuelle Grenzen überschritten werden. Einer Studie zufolge hat eine von 20 Frauen eine ungewollte, einvernehmliche Erfahrung durchlebt.
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Eine Frage, die oft gestellt wird, wenn Frauen über negative sexuelle Erfahrungen und Grauzonen sprechen, lautet: „Hat sie ‚ja‘ gesagt?“ Sobald wir eine Antwort bekommen haben, die in diesem Fall „ja“ lautet, endet das Gespräch an dieser Stelle. Wir geben uns mit diesem „Ja“ zufrieden und stellen keine weiteren Fragen.
Laina Bay-Cheng ist Professorin an der University of Buffalo und untersucht die Auswirkung der Kombination aus Frauenfeindlichkeit, Rassismus und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit auf das Sexleben junger Frauen. Sie sagt, dass unser Fokus auf das binäre Ja/Nein beim Sex das wesentliche Thema, bei dem es in diesem Zusammenhang geht, verfehlt. „Wenn wir nur ‚ja‘ als Maßstab dafür nehmen, ob Sex in Ordnung war oder nicht, übersehen wir die Tatsache, dass viele Frauen aus Gründen zustimmen, die mit Armut und Gewalt und einem Mangel an angemessenen Ressourcen zu tun haben“, erklärt sie. „Ich finde es problematisch, dass wir uns damit begnügen, herauszufinden, ob sie ‚ja‘ gesagt oder nicht, damit wir dann mit ruhigem Gewissen sagen können: ‚Großartig, dann brauchen wir uns ja keine Sorgen mehr zu machen.‘ Ich finde diese Einstellung zu simpel und diese Vorgehensweise wirklich verwerflich.“ Bay-Cheng zufolge sollte die Frage, die wir stellen, stattdessen folgendermaßen lauten: „Okay, sie hat zugestimmt, aber warum?“
Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang besteht darin, wie wir Geschichten wie die von Philippa interpretieren. Wenn wir ihre Story hören, denken sich vielleicht manche von uns: „Sie hätte doch gar nicht zuzustimmen brauchen.“ Solche Bemerkungen sind nicht nur fehl am Platz, sondern berücksichtigen auch nicht den Kontext, der mitwirkt und eine wesentliche Rolle spielt. „Wenn Menschen von ihren Erfahrungen mit ungewolltem Sex sprechen, sagen andere manchmal Dinge wie: ‚Wie schaffen wir es, ihr klarzumachen, dass sie gar nicht einzuwilligen braucht?‘“, so Bay-Cheng. „Wenn das aber der sicherste Ort ist, an dem sie übernachten kann, dann ist ihr Beschluss doch sehr wohl nachvollziehbar.“ Anstatt die Entscheidungen von Frauen zu kritisieren, sollten wir uns lieber auf die Umstände, die bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen, konzentrieren. „Es ist alles andere als in Ordnung, einer Frau vorzuwerfen, dass sie sich falsch entschieden hätte, obwohl sie in Wirklichkeit die strategisch gesehen beste Entscheidung in der jeweiligen Situation getroffen hat. Eigentlich sollten wir damit unzufrieden sein, dass sie nicht schon im Vornherein bessere Entscheidungen traf. An diesem Punkt sollten wir eingreifen – und nicht danach, um ihr Verhalten zu verurteilen.“
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„Strategische Zustimmung“ ist ein Begriff, den Bay-Cheng geprägt hat. Er soll unser Verständnis dafür erweitern, dass es bei sexueller Zustimmung nicht nur um Sex geht, „und dass Sex für viele Mädchen und Frauen eine notwendige – und manchmal die einzige – Möglichkeit ist, Zugang zu Ressourcen zu erhalten und andere Ziele zu verfolgen.“ Strategische Zustimmung ist ein Oberbegriff für eine Menge unterschiedlicher Gründe dafür, Sex zuzustimmen, auch wenn er ungewollt ist: z.B., wenn eine Frau zustimmt, damit sie ein Dach über dem Kopf für die Nacht hat, oder um Sicherheit, Stabilität und vielleicht sogar Hoffnung auf ein besseres Leben zu haben.
„In Wirklichkeit geht es beim Sex für junge Frauen, die mit einer Kombination aus Frauenfeindlichkeit, Rassismus, wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und altersbedingten Einschränkungen zu kämpfen haben, oft nicht darum, was oder wen sie attraktiv, aufregend oder lustvoll finden“, so Bay-Cheng beim Versuch, den Begriff zu erklären. „Stattdessen richten sich Sex und Zustimmung danach, was erfordert wird, notwendig, nützlich oder am sichersten ist (auch wenn es nur für den Moment ist). Mit anderen Worten: Für benachteiligte junge Frauen ist sexuelle Zustimmung und gewollter Sex oft Luxus; ihre Zustimmung ist strategischer Natur, denn aufgrund ihrer Umstände bleibt ihnen häufig keine andere Wahl.“

Für viele Mädchen und Frauen ist Sex eine notwendige – und manchmal die einzige – Möglichkeit, Zugang zu Ressourcen zu erhalten und andere Ziele zu verfolgen.

Laina Bay-Cheng
In den mehr als zehn Jahren, in denen ich über die Themen Sex und Gender Bericht erstattet habe, habe ich nur sehr wenig – wenn überhaupt – über ungewollten Sex in den Medien gesehen. Ich wollte diesen Themenkomplex in meinem Buch behandeln, weil ich glaube, dass die Erfahrungen von Frauen mit ungewolltem Sex in Zusammenhang mit dem Patriarchat Aufmerksamkeit verdient. Was ungewollten Sex angeht, so sind Gelehrte geteilter Meinung: Einige normalisieren ihn, während andere ihn problematisieren. Ungewollter Sex ist aber nicht gleichbedeutend mit Vergewaltigung oder Nötigung.
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Wie sollten wir also diesem Thema gegenüber eingestellt sein? „Wenn wir von statistischen Normen sprechen, ist ungewollter Sex normal“, erklärt Laina Bay-Cheng. „Normalität lässt sich aber auf drei Weisen definieren: Es gibt gesunde Normalität, sozial akzeptable Normalität und statistische Normalität. Statistisch gesehen ist ungewollter Sex im Falle von Männern normal und in jenem von Frauen besonders verbreitet.“
Die Frage, ob ungewollter Sex den Kategorien „gesunde Normalität“ und „gesellschaftlich akzeptable Normalität“ zugeordnet werden kann, ist laut Bay-Cheng umstritten. „Meiner Meinung nach ist sexuelle Zustimmung, die Machtunterschieden entweder innerhalb der Beziehung oder im Umfeld ausgesetzt ist, nicht in Ordnung – selbst wenn sie statistisch gesehen normal ist.“
Abgesehen davon gibt es oft Dinge, die wir tun, die wir eigentlich gar tun nicht wollen. Es kann sein, dass wir bei der Arbeit ein Projekt übernehmen, auf das wir keine Lust haben, um mit unseren Vorgesetzten auf gutem Fuß zu stehen. Möglicherweise willigst du ein, in einem Restaurant zu essen, das du zwar nicht magst, das dein:e Freund:in aber liebt. Das Problem beim ungewollten Geschlechtsverkehr ist der größere Zusammenhang: das systemische Machtgefälle. „Ungleichheiten, die auf das Geschlecht einer Person, ihre Hautfarbe und die Gesellschaftsschicht, der sie zugehört, zurückzuführen sind, sind das, was uns im Weg steht und was das Ganze gefährlich macht“, so Bay-Cheng abschließend.
Vielleicht bist du jetzt versucht, die etwas bevormundende Frage zu stellen: „Wie gelingt es uns, Frauen vor Augen zu führen, dass sie Sex nicht zuzustimmen brauchen, wenn sie nicht mit der anderen Person schlafen wollen?“ Das Verhalten von Frauen ist hier aber nicht das Problem. Das eigentliche Problem liegt darin, dass unsere Welt frauenfeindlich, rassistisch und ungleich ist.
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Wenn sich jetzt bei dir Verzweiflung breitmacht, ist das nur allzu nachvollziehbar. Anstatt uns ohnmächtig zu fühlen, sollten wir aber lieber unsere Energie in den Kampf gegen unterdrückerische Systeme stecken, die nicht entfernbare Narben innerhalb unserer Kultur und bei Betroffenen hinterlassen. Frauen und marginalisierte Gender innerhalb einer patriarchalischen, weißen Struktur zu schützen, wird nicht funktionieren. Deshalb müssen wir darauf hinarbeiten, die Infrastruktur abzubauen, die solche Gewalt ermöglicht.
*Name wurde von der Redaktion geändert.
Wenn du auf der Suche nach Beratung bist und Hilfe benötigst, kannst du dich an das Hilfetelefon wenden, welches ein bundesweites Beratungsangebot für Personen anbietet, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung unterstützt diese Einrichtung Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr.

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