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„Like A Virgin“: Wie der Jungfrauen-Mythos Britney Spears & Co. zerstörte

Es war das erste Mal seit 13 Jahren, dass Britney Spears in der Öffentlichkeit über ihre langwährende Vormundschaft sprach. Im Laufe des 24-minütigen Statements erzählte der Popstar klar und leidenschaftlich davon, wie sie seit über einem Jahrzehnt unter diesem Vertrag litt – wie sie von ihrem Vormund, ihrem Vater Jamie Spears, dazu gezwungen worden sei, sieben Tage pro Woche durchzuarbeiten, gegen ihren Willen Lithium einzunehmen und sogar eine Spirale zu tragen, obwohl sie sich weitere Kinder gewünscht habe.
All das ist jetzt vorbei. Britney Spears’ Vormundschaft ist seit vergangener Woche beendet; ein Gerichtsurteil gewährte ihr endlich die Freiheit, für die sie (und die #FreeBritney-Bewegung) seit Jahren kämpft. Lange wusste niemand davon. Bis Juli, als sie erstmals öffentlich klarstellen durfte, wie weit die Kontrolle ihres Vaters über ihr Leben und ihren Körper wirklich ging.
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In ihrem erschütternden Statement beschrieb Britney im Detail, wie ihr Vater ein ganz bestimmtes Image von ihr verlangt habe. „Mein Körper, der seit verdammten 13 Jahren für meinen Dad arbeitet, hat immer versucht, so gut und hübsch auszusehen. So perfekt“, erzählte sie. „Das hat diesen Leuten, für die ich gearbeitet habe, viel zu viel Kontrolle gewährt.“ Sie verglich ihren Weg zur Berühmtheit mit dem des ehemaligen Disney-Stars Miley Cyrus, die laut Britney nie derart kritisiert worden war – und sogar dafür gefeiert wurde, dass sie vom klassischen Weg eines Popstars abgewichen sei. „Diese Generation wird nie dafür bestraft, Falsches zu tun“, sagte Britney.
Da hat sie irgendwo Recht: Die Zeiten haben sich geändert. Damals war es aber nicht bloß Britney Spears, die in einer Zeit berühmt wurde, als Hollywood-Strippenzieher:innen wie ihr Vater das körperliche Image junger, weiblicher Popstars kontrollierten. Die Darstellung junger Promis als stolze Jungfrauen und die Message, die eigene Jungfräulichkeit sei ein Symbol von Tugend und Wert, erreichte in den späten 90ern und frühen 2000ern ihren absoluten Höhepunkt – und dieser hohe Anspruch befeuerte bloß die amerikanische Besessenheit mit der weiblichen Jungfräulichkeit. Junge Künstlerinnen wurden gegeneinander „aufgehetzt“, schlicht und ergreifend auf der Basis der Entscheidungen, die sie über ihre eigenen Körper trafen.
Als es Britney Spears in den Mainstream schaffte, war sie der symbolische Gipfel der Jungfräulichkeit – inklusive Schulmädchen-Look und kindlicher, sanfter Stimme. Sie teilte mit der ganzen Welt, wie wichtig es ihr sei, Jungfrau zu bleiben. Dann war da noch Christina Aguilera – ein „genie in a bottle“, ein Flaschengeist, unantastbar und nur darauf wartend, von einer würdigen Person „befreit“ zu werden. (Aguilera brach später mit ihrer Single „Dirrty“ mit ihrem Braves-Mädchen-Image und kassierte dafür jede Menge Empörung. Eine MTV-Analyse ihres Musikvideos meinte damals, „das unanständige Mädchen“ Aguilera verdiene es, „dafür den Hintern versohlen zu bekommen“, während TIME Magazine schrieb, sie sähe aus, als käme sie von einer „intergalaktischen Prostituierten-Messe“.) Christina und Britney waren damals nicht die einzigen Aushänge-Jungfrauen: Jessica Simpson zum Beispiel war die Tochter eines Pfarrers, die als Gospelsängerin aufgewachsen war, und Mandy Moore, die jüngste und vermeintlich „anständigste“, sang von Süßigkeiten und trug mädchenhafte Zöpfe.
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„Britney Spears, Jessica Simpson, Christina Aguilera und Mandy Moore kommen aus einer Hollywood-Star-Fabrik“, meint Dr. Jenna Drenten, Professorin für Marketing an der Loyola University in Chicago. „Es herrschte damals dieser Reinheits-Mythos: Du solltest attraktiv, aber trotzdem jungfräulich sein. Das Ganze manifestierte sich dann in der klassischen ‚Wahre Liebe wartet‘-Message, in Enthaltsamkeits-Schwüren, -Clubs und -Ringen.“
Britneys Jungfrauen-Image bekam aber schon erste Risse, als sie noch mit Teenie-Traum Justin Timberlake zusammen war – vor allem, als Gerüchte laut wurden, die beiden hätten sich getrennt, weil Britney untreu gewesen sei. Mit der öffentlichen Meinung zu Britney ging es endgültig bergab, als sie Kinder mit einem Mann bekam, den die Öffentlichkeit nicht guthieß. Die Zeitungstitel über sie nahmen plötzlich einen anderen Ton an, und weil die Presse sie immer mehr kritisierte, durfte sich Britney irgendwann keinen Fehltritt mehr leisten, wenn sie nicht wieder mit einem vermeintlichen „Nervenzusammenbruch“ in den Schlagzeilen landen wollte.  
Daraus wurde zunehmend ein Trend, der auch auf andere weibliche Popstars überschwappte, und im Laufe des folgenden Jahrzehnts wurde die Message immer klarer: Junge Frauen und Mädchen mussten jungfräulich bleiben, um erfolgreich zu sein. Wer die Jungfräulichkeit verlor – oder zumindest ihren Anschein –, ruinierte damit den eigenen Ruf. Aber warum war diese Generation überhaupt so besessen vom Image der „reinen“ Jungfrau?
„Reinheit und Jungfräulichkeit haben im Zusammenhang mit Frauen im Rampenlicht schon immer eine Rolle gespielt, besonders aber in den 1990ern. Damals war das eine Art Protestreaktion auf die 1980er, als Madonna von ‚Like A Virgin‘ sang“, erklärt Dr. Drenten. „Der Gedanke dahinter war: ‚Lasst uns diese Frauen wieder unter Kontrolle bringen und sie wortwörtlich Enthaltsamkeit schwören lassen.‘ Und das wirkte sich eben auch auf die Popstars von damals aus.“
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Dr. Drenten zufolge wurde das Image eines Popstars in den 90ern vor allem von der männlichen Perspektive auf diese Frauenkörper dominiert. Es ging – und geht bis heute – insbesondere darum, heterosexuelle Männer ästhetisch anzusprechen und heteronormative Schönheitsstandards aufrechtzuerhalten. Und obwohl dieser „male gaze“ durch sexualisierte Schulmädchen-Outfits und Songtexte voller sexueller Anspielungen ein ganz bestimmtes Publikum aufreizen sollte – nämlich heterosexuelle cis Männer –, bewarb er gegenüber Frauen gleichzeitig konsequent Reinheit, Jungfräulichkeit und Anstand. „Diese verschiedenen Messages dazu, wie sich junge Frauen gegenüber insbesondere heterosexuellen Männern verhalten sollten, prallten dabei aufeinander“, meint Dr. Drenten.
Kein Wunder also, dass die romantischen Beziehungen zwischen jungen weiblichen Popstars und ihren männlichen Pendants ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Jessica Simpsons Beziehung zum Boyband-Mitglied Nick Lachey wurde genauso dargestellt wie die von Britney und Justin – sie galten als Highschool-Pärchen, das früher oder später heiraten würde. Jessica behauptete, Nick und sie würden mit dem Sex bis zur Ehe warten, und erzählte 2000 gegenüber der People, „meine Jungfräulichkeit ist etwas, worin ich standhaft bleibe“. Nick sagte dazu, es sei „nicht immer leicht, aber ich respektiere es“. Der Verlust von Jessicas Jungfräulichkeit war demnach in Ordnung, weil er mit romantischer Liebe verbunden wurde – was Drenten als Darstellung und Zelebrierung der „Demisexualität“ bezeichnet, wonach sich Menschen nur sexuell zueinander hingezogen fühlen, wenn sie eine emotionale Verbindung zueinander haben. In diesem Kontext gilt Sexualität als „rein“ und „anständig“, weil sie lediglich eine Liebesbeziehung romantisiert. 
Britney hingegen gab zu, mit Justin geschlafen zu haben, obwohl sie nicht verheiratet waren. Als sich die beiden also 2002 trennten, während Jessica und Nick wiederum heirateten, bekam Jessica Applaus – und Britney nur Kritik. Ihr Ruf ging nach der sehr öffentlichen Trennung den Bach runter, während Justins Solo-Karriere durch die Decke ging. Er schien sich darin mit Singles wie „Cry Me A River“ regelrecht zu aalen. 
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„Die Öffentlichkeit glaubte damals nicht, dass [Britney] ihre Jungfräulichkeit verglichen mit anderen auf die ‚richtige Art‘ verloren habe, also konnte sie nicht weiter als vollkommene Jungfrau durchgehen“, erklärt Dr. Drenten. „Daraufhin wandten sich viele Fans gegen sie, weil sie sich quasi enttäuscht fühlten. Ganz nach dem Motto: ‚Nein, wir hatten einen Deal mit dir: Du solltest uns so unterhalten, wie wir kulturell von dir erwartet haben. Und das bezieht sich auch auf deine romantischen Beziehungen.’“
Laut der Journalismus-Professorin Evelyn McDonnell war dieser „Konkurrenzkampf“ zwischen Popstar-Jungfrauen – vor allem nach der Ära sexualisierter Rockstars – ganz beabsichtigt. „Alles rund um dieses Phänomen war gründlich durchdacht und geplant, vom Anpreisen der weiblichen Jungfräulichkeit bis hin zu ihrer Fetischisierung“, erzählt McDonnell. „Durch diese Jungfrauen-Masche war es für Eltern okay, wenn ihre jungen Töchter Britney Spears hörten. Und das war wichtig: Popmusik, insbesondere die für ein jugendliches, weibliches Publikum, stand damals besonders auf dem Prüfstand.“
Das kam nicht von irgendwoher: Als Madonna in „Like A Virgin“ explizit von sexueller Befriedigung sang, folgte ein konservativer Shitstorm. Ihr Song hatte die Vorstellung von Jungfräulichkeit auf den Kopf gestellt und behauptet, man könne sich auch „brand new“, also jungfräulich, fühlen, selbst wenn man schon mit mehreren Leuten geschlafen habe – genau das Gegenteil zum christlichen Moralbild. Auch Janet Jackson legte mit ihrem 1993er-Album Janet eins obendrauf und sang von ihrer erblühenden Sexualität. Und zu einer Zeit, als größtenteils Männer über „Pussys“ rappten, rappte Lil Kim gern über ihre eigene.
Wie McDonnell erklärt, waren Britney, Jessica, Mandy und sogar Christina geplante, fabrizierte Antworten auf ihre musikalischen Vorgängerinnen. Besonders interessant an ihnen waren aber vor allem ihre Fans – die häufig mehrere Jahrzehnte jünger waren als sie selbst. Ihre Eltern gehörten aber ebenfalls zur Zielgruppe und hatten demnach ein besseres Gefühl dabei, wenn ihre Kinder Musik mit „anständigeren“ Messages zu hören bekamen. Demnach war es okay, wenn Britney in einem sexualisierten Schulmädchen-Outfit tanzte und Songs voller Anspielungen sang – schließlich war sie ja selbsterklärte Jungfrau.
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„Britney als Jungfrau zu verkaufen, entfernte sie gleichzeitig aus dem sexuellen Kontext, der eindeutig zu ihrem Reiz gehörte“, meint McDonnell. „Vom Anfang ihrer Karriere an fehlte ihr die Selbstbestimmung. Genau diese fehlende Selbstbestimmung war aber das, was sie für viele so ansprechend machte. Sie war ein postfeministisches – ein antifeministisches –, konservatives Produkt. Sie war eine Umkehrung vieler Fortschritte, die Frauen vorher errungen hatten.“ Und als Britney ihre Selbstbestimmung zurückerobern wollte, bekam ihr Image erste Risse.
Die Besessenheit der Popkultur von der weiblichen Jungfräulichkeit ist seit den frühen Nullerjahren nicht völlig verschwunden, obwohl sie sich seitdem definitiv weiterentwickelt hat. Der Aufstieg der Influencer- und Social-Media-Kultur hat der Hollywood-Star-Maschine und ihren Strippenzieher:innen den Wind aus den Segeln genommen. Trotzdem existiert all das noch immer – und zelebriert weibliche Sexualität bis heute vor allem dann, wenn sie explizit mit romantischer Liebe verbunden ist.
„Dieses Motiv der romantischen Liebe ist immer noch deutlich zu erkennen“, meint Drenten. „Taylor Swift ist dafür ein gutes Beispiel. Wir mischen uns immer noch in ihre Sexualität ein – und wenn sie außerhalb des Kontexts der romantischen Liebe darüber spricht, wird das nicht respektiert. One-Night-Stands? Sex aus purer Lust? Alles tabu.“ Und genau deswegen war die konservative Reaktion auf Cardi Bs und Megan Thee Stallions „WAP“ auch kein Zufall, sondern lediglich eine Fortführung dessen, was Britney und Co. erlebten, wann immer sie gegen gesellschaftliche Regeln verstießen.
Hollywood wird seine Macht so schnell nicht verlieren. Genau deswegen liegt es an uns – den Konsument:innen –, jenen die Strippen zu entreißen, die Britney, Christina, Jessica, Mandy und so viele andere damals wie Marionetten kontrollierten. Nur dann können wir diese Besessenheit mit dem Sexleben berühmter Frauen endlich in die Vergangenheit verbannen. Dieses neue Zeitalter ist zum Greifen nah – wir müssen uns nur aktiv darum bemühen.

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