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Ich erfuhr in einem viralen TikTok-Video vom Seitensprung meines Freundes

Okay, stell dir das vor: Es ist 8 Uhr an einem Samstagmorgen. Du bist schon wach, weil heute deine letzte Brautkleid-Anprobe ist. Unten im Haus versammelt sich deine Familie, um über das Hochzeitsfrühstück zu diskutieren. Du entsperrst dein Handy, um dich wie an jedem Morgen erstmal durch TikTok zu scrollen. Im ersten Video, das auf dem Bildschirm auftaucht, lächelt eine junge Frau in die Kamera. Auf ihrem Gesicht steht ein Text: „Wenn du am 27. August in London einen Bauarbeiter namens Adam heiratest, schreib mir bitte. Ich weiß, was beim Junggesellenabschied passiert ist.“
Das bist du. Du willst Adam heiraten, und sein schmutziges Geheimnis geht gerade in einem TikTok-Video der Userin Polly Jae Webster viral. Du siehst, dass schon 380.000 Leute vor dir hier reingeschaut haben – und viele davon haben eigene Vorschläge dazu, was du als Nächstes tun solltest.
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„Sag die Hochzeit ab“, schreibt jemand. „Sie ist dumm, wenn sie bei ihm bleibt“, tippt jemand anderes.
Ladies and gentlemen, wir haben einen neuen TikTok-Trend: Betrüger:innen erwischen. „Mach Schluss mit ihm“ ist ein beliebter Refrain im Internet, und die öffentliche Enthüllung von Seitensprüngen natürlich auch keine Neuheit – eine neue Art von TikTok-Videos wie das eben erwähnte bringt das Ganze nochmal auf ein völlig neues Level. Darin veröffentlichen TikToker Informationen, die sie bei Fremden mitgehört haben, die in der Öffentlichkeit über ihre Seitensprünge gesprochen haben. Manche der Videos, wie das bereits erwähnte, sind schlicht und textbasiert und laden das vermeintliche „Opfer“ dazu ein, sich für mehr Informationen zu melden. Für andere Videos werden die Gesichter der „Betrüger:innen“ gefilmt und die Zuschauer:innen dann dazu aufgerufen, das Video viral zu machen, damit diese Leute identifiziert werden können.
Sogar Promis haben bei diesem Trend schon mitgemacht. Der amerikanische Olympia-Taucher Tyler Downs zum Beispiel saß mal in einem Flieger neben einem Mann, von dem er vermutete, er würde seine Frau betrügen, weil Downs dessen Nachrichten mitlesen konnte. In einem Video stellte er den vermeintlichen Betrüger bloß, indem er dessen Gesicht filmte und seine Follower dazu aufrief, den Mann zu identifizieren: „Kennt jemand diesen Typen?“
Andere Videos im selben Stil machen sich über die Situation oder sogar die Betroffenen lustig. In einem Video von @datcutecouple, einem Beziehungs-Influencer-Pärchen, filmten die beiden ein anderes Paar am Flughafen beim Essen. Während die Frau isst, sitzt der Mann ihr gegenüber und swipt sich am Handy durch Tinder. In der Caption zum Video steht „Wer sagt’s ihr?“, gefolgt von einem Lach-Emoji, und das Video selbst heißt: „Finden wir raus, wer diese Leute sind.“ Brutal. 
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Selbsternannte TikTok-Beziehungs-Rächer:innen sammeln auf diese Weise Hunderttausende Views – dabei können die Konsequenzen für alle Involvierten enorm sein. Einige User:innen feiern den Trend als eine Art digitaler Service für Frauen; unter Downs’ Video zum Beispiel schreibt jemand: „Dieser Trend lohnt sichhhh.“ Jemand anderes kommentiert: „Du machst hier echt Gottes Arbeit. Im Namen aller Frauen: Danke.“ Andere hingegen finden den Trend etwas verstörend. Geht es dabei denn wirklich darum, Betrüger:innen zu entlarven – oder wird das Trauma von Fremden ausgenutzt, um Likes, Views und Shares zu generieren? Noch dazu ist die Glaubwürdigkeit vieler dieser Videos mindestens mal zweifelhaft. 
Im Fall von Videos wie dem von Polly Jae Webster – die noch nicht auf unsere Anfrage reagiert hat – sorgt die schwammige Art der Story für Misstrauen unter ihren Followern; viele vermuten, es gehe ihr eher darum, viral zu gehen und Geld zu verdienen, als wirklich jemandem zu helfen.
In ähnlichem Stil hat auf TikTok auch Talia Rae (@gayitalianjew) Betrugs-Enthüllungsvideos gepostet. In einem inzwischen gelöschten Video (von dem Teile noch immer auf Reddit kursieren) geht sie auf einen Fremden in einer Bar zu und flirtet mit ihm, nachdem sie mitgehört hat, wie er von seinem Seitensprung erzählt hat. Während des Gesprächs filmt sie sein Gesicht. Am Ende des Videos scheint er interessiert an Talia zu sein, woraufhin sie ihm verrät, dass sie ihn aufnimmt. Ihm entgleisen ein wenig die Gesichtszüge, bevor er flüchtet. Wie viele andere, die bei diesem Trend mitmachen, rief Talia Rae ihre Follower danach dazu auf, das Video zu verbreiten, um die Identität des Mannes rauszufinden; bevor das Video gelöscht wurde, hatten es über 300.000 Leute gesehen. Auch Talia Rae hat sich bisher nicht auf unsere Bitte um einen Kommentar gemeldet. 
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Die nicht berufstätige Mutter Danielle*, die behauptet, die Partnerin des Mannes in Talia Raes Video zu sein, war jedenfalls dankbar dafür, vom Seitensprung ihres Partners zu erfahren – auch, wenn das Format dieser Nachricht merkwürdig war. „Das WAR mein Verlobter. Ich war mit seinem fünf Monate alten Baby alleine zu Hause und glaubte, er sei woanders. Ich bin froh, dass ich jetzt Bescheid weiß“, kommentierte sie von einem inzwischen deaktivierten Account aus unter dem Video. 
Danielles Verlobter ist nicht der einzige vermeintliche Betrüger, den Talia Rae angeblich erwischt hat. Viel ihres Contents dreht sich um dieses Thema; in einem Video versucht sie gemeinsam mit einer Freundin explizit, einen Mann auf frischer Tat zu ertappen, weil ihnen „langweilig“ sei. 
Gegenüber Refinery29 erzählt die 21-jährige Stacie* aus Los Angeles, sie sei die Partnerin der Person in diesem Video und habe sich davon „gedemütigt“ gefühlt. „Ich bin erleichtert, Bescheid zu wissen, hätte mir aber doch gewünscht, davon nicht über TikTok erfahren zu müssen. Ich weiß aber nicht, ob das überhaupt geklappt hätte. Über TikTok ist immer noch besser als gar nicht.“
Die 22-jährige Poppy* aus Tennessee kommentierte das Video mit: „Danke, dass du auf ihn aufmerksam machst – mich hat er dauernd betrogen.“ Nachdem wir nachfragen, erzählt sie, sie sei die jetzige Ex-Freundin des Mannes im Video, der sie auch während ihrer Beziehung betrogen habe. Sie meint, es habe sich schlimm angefühlt, das Video anzuschauen, und sie habe Mitleid für seine aktuelle Freundin gehabt. „Ich war froh, selbst davon erfahren zu haben, das war weniger peinlich – aber ich denke, ich wäre einfach prinzipiell dankbar dafür, irgendwie davon zu erfahren. Es ist traurig und tut weh, aber es ist besser, Bescheid zu wissen, als im Dunkeln zu bleiben.“
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Können wir sicher sein, dass diese Frauen sind, wer sie zu sein vorgeben? Nein. Aber ihre Bereitschaft, darüber zu reden – egal, in welchem Format –, zeigt, wie verbreitet der Trend inzwischen ist. Trotz der Peinlichkeit, die damit verbunden ist, meint Poppy, sie halte den TikTok-Trend für eine gute Idee. „Keine Frau verdient es, betrogen zu werden.“
Dr. Maja Golf Papez ist Marketing-Dozentin an der University of Sussex Business School. Ihre Forschung befasst sich vor allem mit der dunklen Seite von konsumorientierten Beziehungen und Technologien – sprich: Beziehungen, die vernachlässigt werden, sich unerwartet entwickeln, problematisch sind. Sie sieht den Trend kritisch. „Betrüger:innen zu entlarven, bringt den TikTok-Robin-Hoods Views, der Plattform Traffic und dem Publikum voyeuristische Befriedigung“, erklärt sie mir. „Die Leute nutzen TikTok, um in die Leben anderer Leute reinzuschauen und mitzuerleben, wie Geheimnisse enthüllt werden. Die beschämte, wütende, traurige oder nonchalante Reaktion des ‚Täters‘ oder der ‚Täterin‘ ist wie Musik in den Ohren der ‚voyeuristischen Nation‘, wie Clay Calvert 2004 sagte. Diese Leute sind besessen davon, Details über das vermeintlich echte Privatleben anderer Menschen zu erfahren. Der voyeuristische Reiz daran, Betrüger:innen zu entlarven, erlaubt es Zuschauer:innen, die gerne glotzen und sich unterhalten lassen, dabei komplett unsichtbar zu bleiben.“
Maja äußert außerdem die Sorge, dass viele TikTok-Creators den Trend einfach ausnutzen könnten, um mehr Follower anzulocken. Seitensprung-Content hat online schon immer gut performt. Mit einer Betrugsstory bekommst du ganz schnell Aufmerksamkeit, Kommentare und vielleicht sogar Geld, wenn du auf TikTok zum Creator Portal gehörst. Das zeigt allein schon die Community #messytiktok, wo User explizit Content über „messy“, also „chaotische“ bzw. „schmutzige“, Beziehungen hochladen. Der Hashtag hat inzwischen mehrere Milliarden Views.
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Und diese Views lohnen sich – auch finanziell. Laut Seek Metrics bringt ein TikTok mit 300.000 Views und über 1.000 Kommentaren geschätzte 6.000 Dollar (rund 5.130 Euro) ein. Und selbst, wenn nicht so viel kommentiert wird, kommt ein solches Video immer noch auf durchschnittlich 3.000 Dollar (rund 2.500 Euro). Da also jede Menge Geld in unterhaltsamem Seitensprung-Content zu stecken scheint – und die Videos selbst nach dem Aufspüren der „Täter:innen“ oft nicht gelöscht werden –, stellt sich die Frage: Ist dieser Trend wirklich noch ethisch? Geht es hier überhaupt noch um das „Opfer“?
Unabhängig von eventuellen guten Absichten, ergänzt Maja, kann dieser Social-Media-Trend auch ernsthafte Konsequenzen für die Zielscheiben dieser Videos haben, die so öffentlich bloßgestellt werden. In vielen der Kommentare unter diesen Videos wird das „Opfer“ zum Beispiel dazu aufgefordert, die Beziehung sofort zu beenden. „Unsere Leben werden durch das Internet beeinflusst, und öffentliche moralische Verurteilung kann enorme Konsequenzen für das Berufs- und Sozialleben der bloßgestellten Person haben“, warnt Maja. „Sie fühlt sich dadurch womöglich entmenschlicht, und ihr Ruf ist eventuell für immer geschädigt – ganz egal, ob sie öffentliche Reue für die Tat zeigt.“
Das ist ein wichtiger Punkt. Denn was passiert, sobald das Video nicht mehr trendet? Die 31-jährige Rose* fand heraus, dass ihr Partner Tony* sie nach acht Jahren Beziehung betrogen hatte. Sie meint, sie seien wegen einer gemeinsamen Hausabzahlung und bevorstehenden Hochzeit „nicht nur zusammen, sondern aneinander gebunden“ gewesen. Rose erfuhr von Tonys Seitensprung, als sie sich durch Instagram scrollte
Eine Frau, die Rose nicht kannte, hatte ein Foto von sich und Tony gepostet, zusammen mit einer „kryptischen Caption“ über mehrere Partner:innen, wie Rose sagt. Da begriff sie, dass Tony sie betrogen hatte. „Ich glaube immer noch, dass sie das gepostet hat, damit ich es rausfinden konnte, ohne dass sie es mir direkt sagen musste. Ich glaube, sie wollte das Richtige tun“, erzählt Rose. „Es über Social Media zu erfahren, war aber brutal. Ich wünschte, sie hätte den Mut gehabt, mir einfach zu schreiben“, sagt sie weiter. „Der Post verfolgte mich daraufhin ein Jahr lang. Zu viele Leute hatten gesehen, was passiert war, bevor ich selbst drüber stolperte“, erklärt sie. 
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Ein bisschen anders lief es bei der 30-jährigen Amy* aus London, die über TikTok vom Seitensprung ihres Partners Jason* erfuhr. Das Paar arbeitete ein paar Monate lang im Ausland, während Jason ein Sabbat-Jahr einlegte. Amy postete auf TikTok ein kurzes Video von sich mit Jason beim Entspannen. Ein paar Tage darauf bekam sie eine Nachricht von einer Frau, die ihr schrieb, Amys Freund habe eine Affäre.
Obwohl er zu dem Zeitpunkt schon seit acht Jahren mit Amy zusammengelebt hatte und sich die beiden ein Haus teilten, hatte Jason irgendwie nebenher seit 18 Monaten eine ernsthafte Beziehung mit einer anderen Frau geführt. Amy erfuhr davon aus diesem privaten TikTok-Austausch; Hannah* (Jasons andere Freundin) hingegen sah Amys TikTok-Video. Obwohl es unter 500 Views hatte, war das für Hannah absolut furchtbar. „Ich wollte niemandem mit meinem Video eine Message senden. Ich wusste ja nicht mal, dass es da was mitzuteilen gab“, erklärt Amy. „Sie war aber so am Boden zerstört, und es war ihr wahnsinnig peinlich. Sie hatte das Gefühl, alle hielten sie jetzt für ‚die andere Frau‘, die eine Beziehung zerstört hatte. Ich hatte die Option, selbst zu entscheiden, wem ich davon erzählte; Hannah aber nicht.“ Amy ist der Meinung, dass es dir die Möglichkeit nimmt, deinen eigenen Weg einzuschlagen, wenn andere Leute vor dir von deinen Problemen erfahren. In einer Krise kostet dich das die Selbstbestimmung. „Es ist schwer, jemandem zu verzeihen, wenn alle wissen, was zwischen euch passiert ist“, meint sie. „Das nimmt dir die Option, zu bleiben – vor allem, wenn Unbeteiligte ihre Meinung dazu abgeben, was du als Nächstes tun solltest.“
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Letztlich findet Maja, dass TikTok-User – die diese Videos kommentieren und Frauen vielleicht sogar dafür kritisieren, wenn sie ihre Beziehungen nicht nach dem Seitensprung beenden – oft unterschätzen, wie negativ sich die öffentliche Meinung auf alle Beteiligten auswirken kann. „Es ist gut möglich, dass diese Online-Bloßstellung eine unverhältnismäßige Bestrafung für das eigentliche Verbrechen ist“, meint Maja. Schließlich ist das Fremdgehen an sich sogar ziemlich geläufig; Schätzungen zufolge sind 75 Prozent aller Männer und 68 Prozent aller Frauen schon mal auf die eine oder andere Art fremdgegangen. (Neuere Studien tippen darauf, dass die Zahlen für beide Geschlechter ungefähr gleich aussehen.)
Es ist schwer zu sagen, ob dieser Trend also eine gute Sache ist. Vielleicht entlarvt er Untreue und Unehrlichkeit – tut das aber auf eine so öffentliche Weise, dass sich das extrem negativ auf die geistige Gesundheit, Karrierechancen und sogar zukünftigen Beziehungen aller Betroffenen auswirken kann. Wie schon Jon Ronson 2015 in seinem Buch In Shitgewittern: Wie wir uns das Leben zur Hölle machen anmerkte, nutzen wir die Bloßstellung als eine Form der sozialen Kontrolle. „Wir wissen, dass Menschen kompliziert sind und jede Menge Fehler, Talente und Sünden mit sich herumtragen“, schrieb er. „Warum tun wir dann also so, als wüssten wir das nicht?“
* Namen wurden von der Redaktion geändert.

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