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Ich dachte, ich kenne meinen Freund – bis ich seine Arbeits-Persönlichkeit kennenlernte

Foto: Getty Images.
Durch die kleine Wohnung, in der ich seit vier Jahren mit meinem Freund wohne, schallt oft lautes Gelächter. Wir reden mit unseren beiden Katzen – und, wenn wir mal ehrlich sind, auch miteinander – in komischen Stimmen, und gefühlt jeder Satz enthält irgendein Wortspiel. Wir dichten die Texte bekannter Songs um oder denken uns zum Spaß unsere eigenen, völlig bekloppten Raps aus, manchmal mit speziellen Tänzen dazu. Ich erinnere mich noch gut an einen Abend, an dem wir ewig lange wach blieben, um den perfekten Floss Dance hinzukriegen – du weißt schon, dieser zwischenzeitlich irre beliebte Tanz mit den schwingenden Armen. Wir filmten uns also gegenseitig bei dem Versuch, den Move zu meistern, und verglichen unsere Versuche dabei mit dem Clip vom „Backpack Kid“ aus Katy Perrys Performance bei Saturday Night Live. Diese Tanzsession zogen wir komplett ernst durch. Und ich möchte behaupten, dass diese merkwürdigen Aktionen, bei denen wir füreinander performen, einfach unsere Art sind, einander unsere Liebe zu zeigen.
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Wir sind also eindeutig keine sonderlich seriösen Menschen. Umso irritierender ist der neue Klang, der seit etwa 13 Monaten durch unsere Wohnung schallt: die „Arbeits-Stimme“. Von Montag bis Freitag sitze ich an meinem Schreibtisch und tippe so vor mich hin – und höre zwischendurch die tiefe Stimme meines Freundes. Die ist dann allerdings einige Oktaven tiefer als die, mit der er mir und den Katzen sonst was vorträllert, und spricht plötzlich über „Interface-Testing der Grafikschnittstellen“ oder „cloudbasierte EHRs“. Seine Arbeits-Stimme ist zwar, wie auch seine sonstigen „künstlichen“ Stimmen, totaler Quatsch – aber ein ganz anderer Quatsch als der, mit dem wir uns sonst gemeinsam amüsieren. Zwischendurch ist auch mal ein Arbeits-Lachen zu hören, zum Beispiel während eines virtuellen Meetings, aber auch das unterscheidet sich von dem unkontrollierbaren Kichern, das ich sonst von ihm kenne. Dieses Lachen ist irgendwie vorsätzlicher, weniger instinktiv. Es ist eine neue Art der Performance, die so gar nichts mit seinen Flossing-Moves zu tun hat, die mir so ans Herz gewachsen sind.
Zumindest bin ich mit meinen Beobachtungen nicht allein. Seit dem Beginn der Pandemie und den Homeoffice-Empfehlungen lernen viele von uns plötzlich völlig neue Seiten ihrer Partner:innen, Verwandten und Mitbewohner:innen kennen. Die Arbeits-Persönlichkeiten der Leute mitzuerleben, zu denen wir so tiefe Beziehungen haben, ist eindeutig eine merkwürdige Erfahrung – und die wirft die Frage auf: Warum scheinen wir diese Arbeits-Persönlichkeiten zu brauchen, die teilweise ganz andere Charakterzüge annehmen als die, die wir kennen und lieben? 
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Laut der Verhaltenswissenschaftlerin Dr. Sanna Balsari-Palsule ist es bei der Beantwortung dieser Frage hilfreich, unser unterschiedliches Verhalten bei der Arbeit und zu Hause auf einem Spektrum zu betrachten, an deren beiden Enden zwei sehr verschiedene Auslöser stehen. „Einerseits verhalten sich Leute in einem professionellen Umfeld wegen ihrer eigenen Ziele anders“, erklärt sie. „An diesem Ende des Spektrums ist das absolut freiwillig.“ Konkret heißt das: Wenn du zum Beispiel auf eine Beförderung hinarbeitest, willst du deine Vorgesetzten auf dich aufmerksam machen – und dafür benimmst du dich bei der Arbeit vielleicht extrovertierter als in deinem Privatleben. Oder vielleicht möchtest du Teamlead oder Projektmanager:in werden; also verhältst du dich bestimmt, aber umgänglich. „Andererseits kann es aber auch sein, dass wir uns bei der Arbeit anders verhalten, weil es unser Umfeld oder unsere Rolle so verlangt“, erklärt Dr. Balsari-Palsule weiter. Ein Großraumbüro zum Beispiel regt vielleicht eher zum sozialen Austausch an, weswegen du dort extrovertierter auftrittst. Wenn es deine spezielle Rolle oder Position aber von dir erfordert, musst du dich vielleicht hingegen bei der Arbeit selbst zurücknehmen und bescheidener verhalten, als du es privat tust – zum Beispiel in der Dienstleistungsbranche. Selbst, wenn du von Natur aus gut zu deiner Position passt, musst du bei der Arbeit vermutlich einige Seiten deiner Persönlichkeit stärker betonen. Insgesamt, meint Dr. Balsari-Palsule aber, „benehmen wir uns fast alle bei der Arbeit anders als zu Hause.“
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Für diejenigen, die ihre Liebsten bisher aber immer nur in einem bestimmten, nämlich privaten Umfeld erlebt haben, kann es trotzdem total verwirrend sein, im Homeoffice die „andere Seite“ kennenzulernen. Dabei fragen wir uns schnell, ob wir diese Leute eigentlich wirklich so gut kennen, wie wir immer dachten. Dr. Balsari-Palsule findet die Frage, ob unsere Arbeits-Persönlichkeiten weniger authentisch sind als unser privates Auftreten, höchst interessant; ihr zufolge kommt das sowohl auf unsere Motivation für diesen Wechsel als auch auf unsere Fähigkeit an, diese Arbeits-Persönlichkeit „an- und auszuschalten“. „Wenn du deinen Charakter veränderst, um dich beruflich oder persönlich weiterzubringen, kann das meiner Meinung nach durchaus authentisch sein – weil du es ja für dich selbst tust“, erklärt sie. „Wenn diese berufliche Persönlichkeit für dich in Fleisch und Blut übergeht und du sie mühelos annehmen und wieder ablegen kannst, ist das authentisch, finde ich.“
Anstatt mir also den Kopf darüber zu zerbrechen, ob der laut sprechende und zutiefst professionelle Mann im Nebenzimmer ein Hochstapler ist, der jahrelang nur so getan hat, als fände er meine Witze lustig, tröste ich mich mit diesem Gedanken: Mein Freund ist bei der Arbeit kein neuer, anderer Mensch, sondern erweitert dabei seine echte Persönlichkeit. „Für viele Leute hat es etwas Befreiendes, diese Charakterzüge anzunehmen, weil du damit deine Ziele erreichen, deine Persönlichkeit präsentieren, dich selbst herausfordern und entwickeln kannst. Das kann eindeutige Vorzüge haben“, meint Dr. Balsari-Palsule.
Deine professionelle und private Persönlichkeit miteinander zu vereinen, wie es viele von uns im vergangenen Jahr tun mussten, kann sich sogar positiv auf unsere Beziehungen auswirken – weil es ein gewisses Maß an Selbstoffenbarung erfordert. „In der Psychologie bedeutet die Selbstoffenbarung das schrittweise Enthüllen von Gefühlen und persönlichen Erfahrungen, was uns einander näher bringt und das gegenseitige Vertrauen stärkt“, erklärt Dr. Balsari-Palsule. „Die Selbstoffenbarung ist ein wichtiger Teil jeder Beziehung und hat viele Vorteile.“ Zum Beispiel entdeckst du womöglich, dass du und diese Person euch bei Video-Calls sehr ähnlich verhaltet; diese Gemeinsamkeit kann eure Bindung vertiefen. Außerdem können uns diese Einblicke ein besseres Verständnis, Mitgefühl und Bewusstsein des beruflichen Alltags unserer Liebsten verleihen.
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Natürlich gibt es aber auch hier potentielle negative Konsequenzen. „Ein Beispiel: Vielleicht ist jemand zu Hause sonst sehr introvertiert, bei einem Zoom-Call aber plötzlich total gesprächig. Wenn der:die Partner:in oder Mitbewohner:in das miterlebt, kann das entfremdend wirken“, sagt Dr. Balsari-Palsule. Jemanden, den du liebst, bei der Arbeit zu erleben, kann dich auch darüber nachdenklich stimmen, wie du ihn:sie als Kolleg:in empfinden würdest. Und diesen Gedankengang hatte ich auch schon. Weil ich bisher noch nie mit einem heterosexuellen, weißen, cis Mann zusammengearbeitet habe, habe ich vielleicht unfaire Vorstellungen davon, wie sich viele von ihnen im beruflichen Umfeld verhalten; genau deswegen ertappe ich mich manchmal selbst dabei, wie ich meinen Freund genau belausche, um herauszufinden, ob er sich selbst auch so verhält. Und ich bin mir sicher: Wenn ich ihn mal dabei hören würde, wie er eine:n Kolleg:in unfreundlich unterbricht oder bei einem Call irgendetwas Unangebrachtes sagt, würde das definitiv beeinflussen, wie ich ihn sehe. Zum Glück hat er mich auch nach 13 Monaten des Belauschens nicht enttäuscht. Das beruhigt mich extrem – und ich habe sogar das Gefühl, dass uns diese Situation einander näher gebracht hat. Schließlich weiß ich jetzt: Obwohl er sich bei der Arbeit ein bisschen anders verhält als zu Hause, ist er ein respektvoller Mensch, egal in welchem Kontext. Was für eine Erleichterung. 
Dr. Balsari-Palsule zufolge hat uns die Pandemie sogar zu mehr Authentizität und Transparenz bewogen, weil die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben so ineinander verschwommen sind. Ich meine, klar ist es nicht superprofessionell, wenn dein:e Partner:in versehentlich in deinen Zoom-Call platzt, weil er:sie dir ein lustiges Video zeigen wollte. Aber so eine Erfahrung zu machen, während du Augenkontakt mit deinen Vorgesetzten hältst und verzweifelt versuchst, nicht zu lachen, erinnert uns daran, dass wir in absurden Zeiten leben – und nachsichtiger miteinander sein sollten. „In gewisser Hinsicht hat das Homeoffice für einen Ausgleich gesorgt: Durch den Verlust der Büro-Umgebung, die für viele Leute sehr stressig sein kann und die Arbeits-Persönlichkeit unter Druck setzt, sind wir jetzt alle mehr oder weniger auf derselben Ebene“, meint Dr. Balsari-Palsule. „Und weil wir alle dieses kollektive Trauma der Pandemie durchlebt haben, glaube ich, dass die Leute nicht mehr so unter Druck stehen, sich eine Arbeits-Persönlichkeit zuzulegen.“
Gleichzeitig dient die Arbeits-Persönlichkeit vielen, die von zu Hause aus arbeiten, aber auch als erleichternde Abwechslung – vor allem, weil wir sie nur kurzzeitig für Video-Calls und Telefonate annehmen müssen, anstatt diese Maske den ganzen Tag zu tragen. Für mich und meinen Freund sind unsere jeweiligen Arbeits-Persönlichkeiten jedenfalls zum neuen Stoff für gemeinsame Witze geworden; ich liebe es, mich mehrmals am Tag über den Business-Boy lustig zu machen, dessen lautes Zoom-Gelaber versehentlich unsere miauenden Vorgesetzten aus dem Schlaf schreckt, die bei der Arbeit gerne mal pennen.

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