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Warum die Darstellung von Bulimie in The Crown gleichzeitig so wichtig & problematisch ist

Foto: bereitgestellt von Netflix
Achtung: Der folgende Artikel enthält Spoiler für die vierte Staffel von Netflix’ The Crown!
Die vierte Staffel von The Crown steht ihren Vorgängern in Sachen Drama und Spannung um nichts nach. Und obwohl die Serie sicher nie versucht hat, seichte Unterhaltung zu liefern, lässt sich kaum leugnen, dass sie wohl noch nie finsterer war als jetzt. 
Staffel vier beginnt in den späten 1970ern und rückt die mitunter berühmt-berüchtigste Periode des britischen Königshauses ins Zentrum der Handlung: die anfangs märchen-, dann schnell albtraumhafte Beziehung zwischen Prinz Charles (gespielt von Josh O’Connor) und Prinzessin Diana (Emma Corrin). Und da sich The Crown meist sehr treu an der Realität orientiert, darf im Zusammenhang mit Dianas Geschichte natürlich eines nicht fehlen: ihre Essstörung. Die Prinzessin von Wales litt jahrelang unter Bulimie, wie sie erstmals 1992 in Andrew Mortons Buch Diana: Ihre wahre Geschichteverriet, bevor sie drei Jahre später darüber auch öffentlich in einem BBC-Interview sprach.
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Im Laufe mehrerer Episoden zeigt The Crown unverfälschte Einblicke in die Essstörung der Prinzessin. Vor jeder dieser Folgen blendet Netflix zwar eine Triggerwarnung ein, in der der Streaming-Anbieter auf seine Website WannaTalkAboutIt.comverweist; doch stellt sich nach der Staffel dieselbe Frage wie auch beim umstrittenen Tote Mädchen lügen nicht: Reicht diese Warnung wirklich aus?
Immerhin verschönert The Crown in ihrer Darstellung von Dianas Bulimie wirklich gar nichts – eine bewusste Entscheidung, wie ihre Schauspielerin gegenüber Refinery29 erzählt. „Ich wollte das unbedingt gut darstellen“, meint die 24-jährige Emma Corrin. „Dazu habe ich eng mit dem Drehbuch-Team an der Entwicklung der Storyline zusammengearbeitet. Es war mir sehr wichtig, dass wir das genau zeigen. Dabei hatte ich aber ein bisschen unterschätzt, wie schwer es sein würde, das vor der Kamera durchzuziehen.“
„Ich weiß, dass [Prinzessin Diana] über das Thema völlig offen sprach, was mich überraschte“, meint Corrin. „Sowas in den Neunzigern öffentlich zu machen, muss sehr schwer gewesen sein.“ Um die Bulimie glaubwürdig darzustellen, arbeitete Corrin mit einem Bewegungscoach zusammen und verbrachte viel Zeit mit Recherche. Außerdem ermutigte sie die Drehbuchautor:innen, mehr entsprechende Szenen ins Skript aufzunehmen. „Ich habe darum gebeten: ‚Können wir bitte mehr Szenen reinnehmen? Das Ganze ist ein wichtiger Teil ihres Charakters, wir wollen das gut darstellen’“, sagt sie.
Aber ist es eigentlich vernünftig, das Zwangsverhalten einer Essstörung so realistisch zu zeigen? Die amerikanische National Eating Disorders Association setzt sich für Betroffene einer Essstörung ein und meint klar: Nein. „Wir würden es nicht empfehlen“, sagt Chelsea Kronengold, die Pressesprecherin der NEDA, gegenüber Refinery29. Netflix und NEDA arbeiteten nach dem Ende der Dreharbeiten zusammen, um Zuschauer:innen der Serie entsprechendes Informationsmaterial zur Verfügung zu stellen. 
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Auch die Ehe- und Familientherapeutin Jennifer Lombardi stimmt der NEDA-Einschätzung zu. „Jedes Mal, wenn wir Essstörungen in den Medien zeigen, ist das eine riskante Gratwanderung“, sagt sie. „Natürlich steckt dahinter die gute Absicht, zu bilden und informieren – aber das Ganze hat auch Nachteile. Solches Verhalten wird dadurch normalisiert.“ Sie kritisiert, dass die Darstellung einer Essstörung auf dem Bildschirm oft daran scheitert, „die Schwere dieser Krankheiten zu vermitteln“. Denn Zwangsessen und Erbrechen kann natürlich ernsthafte gesundheitliche Konsequenzen haben, indem es beispielsweise zu einem chemischen oder Elektrolyten-Ungleichgewicht führt, das sich auf die Hauptorgane des Körpers auswirken kann. Und Bulimie ist dabei übrigens auch bei Weitem keine seltene Erkrankung: Zwischen 1,1 und 4,6 Prozent aller cis Frauen und 0,1 bis 0,5 Prozent aller cis Männer entwickeln laut der NEDA im Laufe ihres Lebens Bulimie. 
Auch kann die realistische Darstellung von diesem Zwangsverhalten als Trigger für (genesende) Zuschauer:innen mit Essstörungen dienen – vielleicht, weil es sie an ihre Krankheit erinnert, oder weil sie sich dabei mit der gezeigten Person vergleichen. Was das heißt, fasst die NEDA auf ihrer Website zusammen. Essstörungen derart zu dramatisieren kann unter Überlebenden eine Art „negatives Wettrennen provozieren“, weil es folgenden Eindruck vermittelt: „Die im TV sind dünner als ich – und leben ja trotzdem noch. Ich kann und sollte also ruhig noch mehr abnehmen. Oder: So krank wie die bin ich ja gar nicht, ich habe also gar kein Problem.“
Noch dazu warnt Kronengold vor einem anderen Aspekt solcher Szenen: „Das Zeigen konkreter Verhaltensweisen könnte womöglich sein Ziel verfehlen, Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu lenken, und vielleicht eher als eine Art Anleitung dienen“, meint sie. Das gilt übrigens nicht bloß für The Crown, sondern natürlich alle anderen Mediendarstellungen von Bulimie. „Außerdem kann es dazu führen, dass sich Betroffene, deren Krankheitsbild eben nicht genauso aussieht, sehr isoliert fühlen“, fährt sie fort. Schließlich zeichnet Prinzessin Diana ein sehr spezifisches Bild: das einer weißen, dünnen, cis Frau. Dabei kann jede:r an Bulimie erkranken, unabhängig von Herkunft, Gender und Figur – und tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, an einer Essstörung zu erkranken, unter transgender, Schwarzen und hispanischen Menschen womöglich umso größer, erwähnt die NEDA. „Wir freuen uns über die Darstellung von Essstörungen in den Medien, wenn sie verantwortungsvoll gestaltet wird“, meint Kronengold, fügt aber hinzu: „Diese Message richtig zu vermitteln, kann aber sehr schwierig sein.“
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Aber was hält denn Netflix selbst von diesen Kommentaren? Wir haben den Streaming-Giganten um eine Stellungnahme gebeten und bekamen folgende Antwort: „Die Produzent:innen von The Crown haben eng mit der Essstörungs-Wohltätigkeitsorganisation Beat zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass ihre Darstellung der Bulimie von Prinzessin Diana sowohl der Krankheit gerecht wurde und entsprechend einfühlsam ausfiel.“
Also fragten wir auch bei Beat nach. Die sagten: „Wir wurden während der Produktion von Staffel 4 von The Crown von Netflix und Left Bank Pictures zu Rate gezogen. Am Set waren wir nicht anwesend, aber berieten dabei, wie Essstörungen vernünftig dargestellt werden sollten. Dazu gehörte auch die Triggerwarnung und der Verweis an entsprechende Hilfsorganisationen.“ Die Darstellung einer solchen Störung finden sie dabei eher lobenswert: „Essstörungen leben von der Geheimniskrämerei. Wir sind der Meinung, dass realistische und nicht-verherrlichende Darstellungen solcher Krankheiten in den Medien dabei helfen können, ein größeres Publikum auf ihre Existenz aufmerksam zu machen und Betroffene dazu zu ermutigen, sich Hilfe zu suchen.“
Und während diese Aufmerksamkeit natürlich wichtig ist, merkt Kronengold an, dass es vielleicht effektiver wäre, die Erholung von einer solchen Krankheit zu zeigen, anstatt viel Zeit darauf zu verwenden, das Zwangsverhalten vor die Kamera zu zerren. „Es sollte eher gezeigt werden, wie eine Person den Umgang mit ihrer Krankheit lernt und begreift, wie sehr sie sich auf ihren Alltag auswirkt.“
Lombardi hingegen findet vor allem eines wichtig: das Vorurteil zu bekämpfen, eine Essstörung sei immer ein Zeichen von Kontrollsucht oder Eitelkeit. Inzwischen haben einige Studien sogar nachgewiesen, dass solche Erkrankungen häufig biologischen Ursprungs und charakterabhängig sind. „Als Therapeutin freue ich mich über diese Studien, weil sie die Scham- und Schuldgefühle Betroffener reduzieren können“, meint Lombardi. „Wir können nicht mehr behaupten, es sei eine Eitelkeitskrankheit; stattdessen verstehen wir jetzt, dass die Betroffenen häufig bestimmte genetische oder charakterliche Eigenschaften teilen, die sie anfälliger machen.“
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Und wie sieht das in The Crown aus? Zugegeben, die Serie widmet sich nicht der Wissenschaft rund um Bulimie oder ihren Heilungsmethoden – sie verherrlicht die Krankheit aber auch nicht. Und tatsächlich macht die Show auch vieles richtig. Zuallererst zeigt sie nämlich, dass sich Dianas Bulimie über viele Jahre erstreckte, und liefert im Staffelfinale auch eine Szene, in der wir die Prinzessin dabei sehen, wie sie sich selbst vom Erbrechen abhält. Die Essstörung fühlt sich dabei nie wie etwas Kurzzeitiges, Belangloses in Dianas Leben an – und ließ sich natürlich auch nicht völlig aus dem Drehbuch streichen, machte sie doch einen großen Teil ihres Lebens damals aus, und half indirekt sogar unzähligen Betroffenen, sich Hilfe zu suchen: Nachdem sich die Prinzessin 1992 zum ersten Mal öffentlich zu ihrer Bulimie bekannte, kam es zu einem Anstieg gemeldeter Fälle und Behandlungen im Zusammenhang mit der Krankheit. Das nannte sich, so der NEDA-Blog, den „Diana-Effekt“.
Aber ganz unabhängig davon, was du davon hältst, wie The Crown Dianas Bulimie thematisiert, hat der Warnhinweis vor jeder entsprechenden Episode durchaus seine Daseinsberechtigung. Daher rät die Organisation Beat Betroffenen auch explizit davon ab, sich „diese oder andere Serien und Filme anzusehen, in denen Essstörungen dargestellt werden. Wer sich dennoch dazu entscheidet, sollte unserer Meinung nach ein starkes Support-Netzwerk haben.“
Lombardi selbst hat die Serie zwar noch nicht gesehen, stimmt aber zu: Jemand, der oder die selbst eine Essstörung hat und noch am Anfang der Besserung steht, sollte einen Bogen um realistische Darstellungen wie diese machen. Wenn du als Betroffene:r aber doch einschaltest und dich getriggert fühlst, empfiehlt Lombardi, dir danach direkt ein bisschen Selbstliebe zu gönnen: Geh spazieren, ruf Freund:innen an, lass dir ein Schaumbad ein oder lies dein Lieblingsbuch. „Finde deinen eigenen Bewältigungsmechanismus“, meint auch Kronengold. Du empfindest trotzdem Heißhunger und den Drang, dich zu übergeben? Ruf jemanden an, dem du vertraust – oder die TelefonSeelsorge (0800 111 0 111)! 
Sobald es dir wieder besser geht, solltest du trotzdem mit jemandem darüber sprechen. „Wenn es mir schlecht geht, ist es für mich am besten, es einfach durchzustehen“, erzählt Lombardi. „Danach brauche ich aber ein offenes Ohr – ob nun von Therapeut:innen, Freund:innen oder Verwandten. Schluck es nicht runter. Betäube es nicht.“
Wenn du selbst unter einer Essstörung leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe brauchen könnte, kannst du die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 anrufen oder den Chat der TelefonSeelsorge nutzen. Und auch die Essstörungs-Organisation ANAD e.V. kann dir helfen!

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